Titel: Restoring the Death of Orpheus (2000)
(Teodoro Anzellotti gewidmet)
 
  Besetzung: für Akkordeon und Orchester  
  Dauer: ca. 25 Min  
  Uraufführung: 22. Juni 2002, Herkulessaal der Münchener Residenz, musica viva
Teodoro Anzellotti, Akkordeon
Sinfonieorchester des BR, Leitung: Lothar Zagrosek
 
  Verlag: Ricordi, München  
  Auftragswerk: Musica Viva München  
  Aufnahme: Bayerischer Rundfunk München (näheres über kontakt@rolf-riehm.de)  
  Kommentar: Rolf Riehm

Orpheus singt davon, wie die Musen weinend seine Glieder sammelten und sie in Leibethra, am Fuß des Berges Olympos, begruben. Die Mainaden hatten seinen Leib in Stücke gerissen, weil sie von Dionysos auf Orpheus gehetzt worden waren. Denn Orpheus hatte sich den Zorn des Dionysos zugezogen, weil er als Priester des Echnaton den Kult des Sonnengottes in Thrakien eingeführt hatte.

Eine andere Erzählung stellt dies so dar, daß Orpheus in seiner einseitigen Verehrung der Sonne wohl zu weit gegangen war. Als er bei Nacht ins Pangaiongebirge aufstieg, um in der aufgehenden Sonne Apollon zu verehren, geriet er in die geheime Feier der thrakischen Bakchantinnen zu Ehren des Dionysos. Sie erkannten ihn wohl und in ihrer rasenden Eifersucht zerrissen sie den Sohn der Muse.

Nach einer anderen Erzählung wurde er von thrakischen Frauen umgebracht, die es ihm verübelten, daß er sich nach seiner Rückkehr aus der Unterwelt der Liebe der Frauen enthielt und nur noch Umgang mit Jünglingen pflegte.

Dieser Vorfall wird auch ganz anders berichtet. Danach waren es die Mainaden, die darauf warteten, bis ihre Männer die Waffen abgelegt und Apollons Tempel betreten hatten, wo Orpheus als Priester diente. Dann ergriffen sie die Waffen, brachen in den Tempel ein, töteten ihre Männer und zerrissen Orpheus Glied um Glied. Sein Haupt warfen sie in den Fluß Hebros, aber es schwamm, immer noch singend, zum Meere.

Orpheus war der Sohn des thrakischen Königs Oiagros und der Muse Kaliope. Der Name Orpheus könnte sich von ophruoeis = <am Flußufer> ableiten, wäre somit ein Name für Phoroneus oder Kronos und würde sich auf die Erle, die <an den Ufern> des Peneios und anderer Flüsse wächst, beziehen. Der Name seines Vaters, Oiagros = <von der wilden Vogelbeere>, verweist gleichfalls darauf. Die Vogelbeere (französisch = alisier) und die Erle (spanisch = aliso) tragen den Namen der prähellenischen Flußgöttin Halys, auch Alys oder Elys, der Königin der elysischen Inseln. Dorthin kamen Phoroneus, Kronos und Orpheus nach ihrem Tod.

Nach einer anderen Erzählung war Orpheus selbst Dionysos und die Mainaden sind nichts anderes als die Musen.

Vom Haupt des Orpheus und von seiner Lyra gibt es eine besondere Geschichte. Die Mörderinnen sollen seinen Kopf abgeschnitten, an die Lyra genagelt und so ins Meer geworfen haben oder vielmehr in den thrakischen Fluß Hebros, in dem er singend schwamm und die Lyra weiter tönte. Der Strom trug das singende Haupt in das Meer und die Strömung des Meeres nach Lesbos, der Insel, die nachher die reichste an Liedern und an süßem Klang der Lyra wurde.

All dies sang Orpheus. Sein Gesang zähmte nicht nur die wilden Tiere, sondern entzückte auch die Bäume und Felsen, die ihre Plätze verließen, um seiner Stimme zu folgen. In Zone in Thrakien stehen noch immer alte Bergeichen in der Stellung von Tänzern, so, wie er sie verließ.

...und einige andere Texte, s. bei den Untertiteln.

Erster Teil
SONDEN, FUNDE

Sonden in die Textablagerungen, es werden Funde gemacht.
Bericht davon in Flußbildern. Dies sind instrumentale Erzählungen, die vom Akkordeon vorgebracht werden. Es deutet sich an, daß die Komposition von Haus aus ein Stück für Solo-Akkordeon ist. Von Anfang an jedoch bleibt der Widerhall des Imaginationsraumes, in den hinein die Musik tönt, nicht virtuell: er konkretisiert sich im Orchester.
Materialfundus des ganzen Ersten Teils ist ein „Pool“ aus einer 19-taktigen Passage für Akkordeon solo. Es finden dauernd Zugriffe, Rückgriffe auf verschiedene Ausschnitte aus diesem Pool oder Paraphrasen darüber statt, mal vom ersten Takt an, mal von anderen Stellen aus. Als eigenständiges Stück existiert dieser Pool nicht, sondern nur, wie bei einer Ausgrabung (SONDEN, FUNDE), als aufgefundene Bruchstücke von etwas.


Wovon die Musik erzählt:
Kopf des Orpheus treibt den Hebros hinab...
Mainaden waschen das Blut an ihren Händen im Helikon ab...
Orpheus, der Schamane...
Er brachte den Sonnenkult des Echnaton nach Griechenland...
Sonnenspiegelungen im Wasser...
„Orpheus“ = der Name bedeutet „am Flußufer“


Flußbild 1
T 1-43
Solofluß des Akkordeons, in formtechnisch „unebenem“ Gelände

Flußbild 2
T 44-57
erneuter Beginn wie eben, mit kataraktischer Unterschneidung durch einen Ersten Findling (T 54-57)

Flußbild 3
T 58-78
nochmaliger Anlauf, mit Zweitem Findling (T 66-70)

Flußbild 4
T 79-108
der Solofluß des Akkordeons strömt nun dahin, mit zahlreichen Paraphrasen von Rücksprüngen in die bisherigen Abläufe

Sonnenbild Akkordeon
T 109-131
Eine Reihe von kurzen Phrasen fügen sich, entsprechend ihrer Lage im Oktavraum, zu einer virtuellen Sonnenzeichnung ( = Kreis). Unterbrochen durch Sonnenlichtwellenreflexe - Einschübe (T 113-129).

Flußbild 5
T 109-131
Wellen...

Sonnenbild Orchester
T 157-178
in drei Auf- und Untergängen

Flußbild 6
T 179-193
Wellen...
mit „Wellenschatten“ im Orchester (T 184-187) in vier dynamisch/klanglich gestaffelten Wellenbildern und einem „Nachzittern“ davon (T 189)

Zweiter Teil
GESANG

So wie der Musiker das Instrument an seinem Körper hält, könnte man es geradezu als eine Theatralisierung der Stimmfunktionen ansehen (Register, Zungen = Stimmbänder, Blasebalg = Lunge).
Daher habe ich mich bei der Komposition an der Vorstellung von GESÄNGEN orientiert und es ist unvermeidlich, daß sich dies mit dem Eindruck vermischt, es handele sich um Anspielungen auf den <Gesang des Orpheus> oder gar um eine Metapher dafür.

Erstes Bild
Der Kopf ist auf die Lyra genagelt
T 205-240

Wovon die Musik erzählt unf Orpheus singt:
Die Mörderinnen sollen den Kopf des Orpheus abgeschnitten, an die Lyra genagelt und so ins Meer geworfen haben oder vielmehr in den thrakischen Fluß Hebros, in dem er singend schwamm und die Lyra weiter tönte. Der Strom trug das singende Haupt in das Meer und die Strömung des Meeres nach Lesbos, der Insel, die nachher die reichste an Liedern und an süßem Klang der Lyra wurde.


Im Orchester das Bild der Lyra (T 205-222), bestehend aus den mythischen Bestandteilen:
Chelys (Schildkrötenpanzer=Resonanzkörper): tutti (stehender Akkord mit Auswölbungen)
Zygon (Querjoch): zwei Klarinetten (Paraphrase des Ersten Apollon-Hymnus‘, eins der drei mit Musikzeichen überlieferten Stücke aus der Antike)
Pecheis (zwei Arme): Streicher (zweimal weiche Akkordstriche)
Chordai (vier Saiten): vier Tutti-Schläge

Abbau der Erregung des Orpheus, in die er durch die ekstatische Pathetik seiner Leidenserzählung geraten war.
T 223-240
1. Abschnitt
Eingeflochtene Elemente: Melodie-Schlieren, tonale „Gebinde“, eine neue Spur: Dreiergruppen
2. Abschnitt
Eringeflochtene Elemente: Der Kopf ist genagelt..., Melodie-Schlieren, SEIKILOS-Lied, weitere Dreiergruppen


Zweites Bild
Helikon – Baphyra
T 241-372

Wovon Orpheus singt:
Die Mainaden reinigten sich im Flusse Helikon von Orpheus‘ Blut. Der Flußgott tauchte auf eine Länge von vier Meilen unter und kam mit einem anderen Namen, Baphyra, zurück. So vermied er es, Mitschuldiger an dem Mord zu werden.

HELIKON: T 241-299
Im Akkordeon hört man Orpheus von sich berichten, im Orchester läuft ein Film mit den Gräueltaten der Mainaden ab. Der Impuls für lineare Figurationen ist das SEIKILOS-Lied (das zweite erhaltene Musikstück aus der Antike). Auf einfachste Musizierformen wird rekurriert: Lied singen und begleiten.
Die Distanz zwischen beiden Erzählungen (Orpheus – Mainaden) kommt darin zum Ausdruck, daß jeweils in den Mund des einen, während der andere erzählt, „keine Sprache“ kommt, sondern eine neutrale Welle. Formal angelegt als gegenbildliche Wiederholungen:



BAPHYRA: T 300-372
Die Wellenbewegung setzt sich fort, aber Akkordeon und Orchester haben sich, alternierend ineinander verschmelzend, gleichsam in nur noch einen Mund transformiert, sie tönen nicht mehr gegeneinander.
Der neue Fluß will von der Tragödie nichts mehr wissen, er sucht nach einem unverfänglichen, tröstlichen Wellenschlag/Gesang.

Drittes Bild
Threnodie
T 373-468

Wovon Orpheus singt:
Auf dem Grab war in der Mittagsstunde ein Hirt eingeschlafen, und im Traume sang er, süß und mächtig, die Gesänge des Orpheus, als wäre es dessen unsterbliche Stimme gewesen, die aus dem Totenreich tönte.

Trümmerfelder, zerrissene, zerklüftete Teile.
Formal eine Filter-Technik: Tod hat Innensinn und Einfassung aufgelöst, nach außen dringt nur noch, was durch die Ruinen der Existenz hindurch den Weg ins Freie geschafft hat. Wie durch die Schaltung eines „Grabes-Filters“ gesteuert.
Unverhältnismäßige Dimensionssprünge. Erstarrte Instrumental-„Modulationen“.

Viertes Bild
Die Bergeichen von Zone
T 471-Ende

Wovon Orpheus singt:
Sein Gesang zähmte nicht nur die wilden Tiere, sondern entzückte auch die Bäume und Felsen, die ihre Plätze verließen, um seiner Stimme zu folgen. In Zone in Thrakien stehen noch immer alte Bergeichen in der Stellung von Tänzern, so, wie er sie verließ.

Orpheus singt (Akkordeon), es tanzen die Bergeichen (Orchester).
In seiner Erzählung tanzen sie noch, aber man hört die tanzenden Eichen nicht, man hört nur die erstarrte Form als Erinnerung daran, Zeugnis des Todes des Orpheus.
Man könnte sagen: In der Musik der Eichen schaut der „große Naturzusammenhang“ dem panischen Orpheus gelassen zu.

Fünf durch Pausen getrennte Abschnitte, in denen der gedehnte Reflex des Orchesters auf den Gesang des Orpheus immer weiter nach hinten rückt:

Die Zeit läuft übereinander her. Während Orpheus davon singt, wie Orpheus die Bergeichen durch seinen Gesang zum Tanzen gebracht hat, hören diese ihm bereits aus ihrer Jahrhunderte alten Erstarrung heraus lächelnd zu. Verkantung der zeitlichen Referenzen: Die Gegenwart des Akkordeons ist die Vergangenheit des Orchesters (ab Abschnitt 2) und seine Vergangenheit ist die Gegenwart des Orchesters (Teile in allen Abschnitten), manchmal laufen die Gegenwarten Hand in Hand dahin (ebenfalls Teile in allen Abschnitten).

Das Stück changiert ständig zwischen der Möglichkeit, ein „Bericht über...“ darzustellen und eine Restaurierung der mythischen Details selbst zu sein. Ich interpretiere den Mythos als Erzählform, in der das, worüber erzählt wird, von dem, wie und vom wem erzählt wird, zeitlich nicht mehr unterschieden werden kann. Orpheus besingt seine Ermordung und gleichzeitig hört man die rasenden Mainaden auf ihn einschlagen. Beide benutzen dasselbe musikalische Material, aber einmal, vom Akkordeon gespielt, in eine threnodische Szene gebracht und das andere Mal als eine auftrumpfende orchestrale Klangattacke. Das gleiche Stück zweimal. Und zwar entweder effektiv gleichzeitig oder in kurzen Abschnitten gegeneinander unterschnitten. Die Ebenen zerfließen so, daß im Gesang des Orpheus die Manifestation der Mainaden enthalten ist.

Wie schon angedeutet und zur Orientierung auch absichtlich so ausgearbeitet, ergibt sich eine nahezu natürliche Gravitation in der Weise, daß das Akkordeon den Part des Orpheus repräsentiert und das Orchester den, der <nicht Orpheus> ist. Das können andere handelnde Gestalten sein, aber auch gleichsam hereingeschobene Requisiten, z.B. das Bild des Meeres, auf dem Kopf und Lyra treiben, oder das des Helikon, der dahinfließt und allmählich in der Erde verschwindet.
Und hier verschmilzen die Dinge derartig, daß man nicht weiß, ob dies noch der Gesang des Orpheus oder die Darstellung durch einen Dritten ist. In Wahrheit ist es mein Gesang (den ich dem Akkordeon und dem Orchester übertragen habe).

Was überhaupt mich betrifft, so stehe ich am Ende einer langen mythischen Tradition. Schon die Textablagerungen, die oben abgedruckt sind, entstammen einem umfangreichen und zeitlich sehr gestreckten Korpus von Erzählungen aus der Antike. Was einem Pindar und Aischylos recht ist, ist mir billig. So habe ich in mein Erzählrepertoire Relikte aufgenommen, die erst in der Folgegeschichte ihre Spuren gezogen haben. Das <Seikilos-Lied> aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, auf einer Grabstele komplett mit Text und Noten erhalten, ist so eins. Obwohl erst spät hergestellt, liegt es doch in der alten Sepulkraltradition und man kann es mit Recht als ein Musikdokument der griechischen Antike bezeichnen. Nicht ganz so unversehrt, dafür aber erheblich früher: der Erste Delphische Hymnus an Apollon (!) aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Er erscheint sehr exponiert von zwei Klarinetten gespielt, in einer an die vermutliche Praxis angelehnten, aber der dramaturgischen Situation meines Stückes angepaßten frei erfundenen Heterophonie.
Und da mein Instrument nicht die Lyra ist, sondern zwei in ihrem kulturellen Kontext so verschiedenartig aufgewachsene Klangkörper wie Akkordeon und Orchester, versteht es sich von selbst, daß Einprägungen auch aus deren Geschichte in die Wortbildungen meiner Tonsprache eingegangen sind (bestimmte Klangfiguren, Übernahmen aus Musikstücken verschiedener Epochen u.ä.).

Im Gesang des Orpheus ist die „Chiffrierung der Welt“ und deren Erleiden gleichermaßen enthalten. Die Grenzen zwischen Zeichen und Gezeigtem sind ineinander zerflossen.
Damit einhergehend an die Hörer gerichtet: Appelle zur Anerkennung verschwimmender und unübersichtlicher ästhetischer Belastungen. Ich bemühe mich um die Verflüssigung dessen, was strukturell vereinbar oder benennbar ist. A ist immer zugleich ein Stück B.

Der Ausdrucksradius der Musik erweitert sich dadurch in einen gewissermaßen mehrstöckigen Horizont hinaus (hoffe ich!). Keine neuen Klänge. Vielmehr sind es die Konstellationen bzw. Konfigurationen, in denen sich die Elemente, man könnte sagen, auf gebrochene, fraktale Formen zubewegen, die ebenfalls unbestimmbare „Ränder“ haben.
Orpheus singt im Stück den Bergeichen etwas vor und als Reflex darauf halten sie ihm ihren bereits erstarrten Zustand entgegen. Das ist Niederschlag davon, daß sich Korrespondenzen mittlerweile in einem allezeit und allseitig reflektierenden, gleichsam sphärischen Raum abspielen.
Sie haben zu seinen Weisen schon getanzt, bevor er überhaupt zu singen angefangen hatte.

 
       
       
       
       
       
   
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