Titel: Odysseus aber hörte ihr Schweigen nicht - Orchesterstück zu einer Erzählung von Franz Kafka (1993)  
  Besetzung: Orchester  
  Dauer: 12 Min  
  Auftrag: Saarländischer Rundfunk Saarbrücken  
  Uraufführung: Saarbrücken, Kongreßhalle Großer Saal, 1. Konzert-Matinee
26. September 1993
Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken
Leitung: Marcello Viotti
 
  Verlag: Ricordi, München  
  Aufnahme: Saarländischer Rundfunk Saarbrücken  
  CD: Rolf Riehm, Talking Music Con Brio, TalkM 1006, Tonträger Liebermann, Friedrich-Ebert-Str. 11,
95448 Bayreuth, Tel 0921/66701
 
  Kommentar:

Rolf Riehm

 
    Franz Kafka (1883-1924)
(aus: Das Schweigen der Sirenen)

Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.
Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.

Es wäre ja für die Sirenen noch irgendwie erträglich gewesen, wenn er sie vergessen hätte oder wenn er nicht bemerkt hätte, daß sie nicht singen. Aber daß er von ihnen nichts mehr weiß, das ist etwas absolut ontologisch Vernichtendes. Also die Vorstellung eines ignoranten Bewußtseins, das einen weiten Blick auf kein Land richtet. Der Blick von Odysseus macht sich nirgendwo fest, er hat kein Gegenüber.
Dieses Bild wies dem Stück die Richtung: das Pauschale in den Griff zu bekommen. Das Verweigern von Differenz – das bedeutet ja: Nicht-Wahrnehmen – das wird ausdifferenziert. Es ist ein Tutti-Stück, auch da, wo nicht alle beteiligt sind.
Das muß man sich mal vorstellen: der Odysseus fährt an diesen gewaltigen Mythos heran, den bislang überhaupt nur Orpheus überstanden hat. Die Sirenen (Sirene = Gesang, kein Gesang = keine Sirene) bringen sich zum Verschwinden, um ihn anzulocken. Allein schon diese grandiose Dichotomie hätte ihn überwältigen müssen. Der denkt aber nur an seine blöden Mittelchen und: FÄHRT VORBEI!!! Odysseus, der Vorbeifahrer. Ein Pandämonium an Beziehungslosigkeit und Nicht-Verhältnis. Daß überhaupt zwei Seinsformen nicht miteinander kommunizieren! Ein Bewußtsein gerät in eine solche Situation, und da. Wo sie sich zuspitzt, hat dieses Bewußtsein sich woandershin orientiert und nimmt einfach nicht mehr wahr, worin es steht. Das ist, finde ich, der Inbegriff von Traditionslosigkeit und Ausdruck eines bis zum Äußersten getriebenen Selbstinteresses.
Die Aktualität dieser Metapher springt natürlich ins Auge, da braucht man sich nicht groß kulturphilosophisch ins Zeug zu werfen.

(1993)

 
       
       
       
   
zurück