Titel:

Machandelboom (1982)

 
  Besetzung: Hörstück  
  Dauer: 50:19 Min  
  Produktion:

Westdeutscher Rundfunk Köln

 
  Ausführende: Heiner Goebbels, Alfred Harth, Christoph Anders, Gisela Corves, Gisela Franke, Paulus Böhmer, Nikolaus,Hanne,Hilde,Rolf,Elly,Karl Riehm, Michael Hanemann u.v.a.  
  Ursendung: Westdeutscher Rundfunk Köln 12.Januar 1983  
  SACD: Cybele SACD 960.501  
  Kommentar: Interview Rolf Riehm – Wolfgang Hamm über den „Machandelboom“

Was hat dich an diesem Märchen als Stoff gereizt?

Es gibt Zeiten, in denen bestimmte Stoffe immer wieder auftauchen. Und dieses Märchen, das ich als Kind schon kannte, aber eigentlich übersprungen hatte, weil ich es zum Teil gar nicht verstanden hatte, hat mich plötzlich wieder stark beschäftigt. Die Zuspitzung von Gewalt in den persönlichen Beziehungen fand ich in diesem Märchen auf eine nicht mehr reduzierbare klare Form gebracht. Sehr beeindruckt hat mich, daß das so offen ausgesprochen und ganz unsentimental dargestellt wird.
Es klingt vielleicht trivial, wenn ich einen Sprung in die Gegenwart mache, aber ich erlebe z.Z. das, was sich politisch abspielt, auf eine ähnliche Weise. Wenn man z.B. die Reden von Reagan hört, die Begründungen für seine Rüstungsmaßnahmen vor dem Kongreß, denkt man, das kann doch einer, der darüber zu entscheiden hat, nicht auf so naive Weise begründen. Da muß doch noch mehr kommen, aber es kommt nicht mehr.
Was mich auch beschäftigt hat, die Szenen mit Cohen, diesem „Vater der Neutronenbombe“ im Film von Alexander Kluge. Das war auch eine Märchenerzählung.
Für mich ist klar, daß das Märchen nicht etwas Abgehobenes ist, sondern daß es geschichtliche Erfahrung wiedergibt.
Es gibt natürlich viele Möglichkeiten, Märchen zu interpretieren, psychologische, soziologische, ethnologische usw. Ich bin im nachhinein froh darüber, daß ich mir wenig Gedanken darüber gemacht habe, wie man das alles deuten könnte. Ich habe mich nicht als ein Erklärender, sondern als ein Zuhörender verhalten, ohne eine „alltägliche“ Vertrautheit mit dieser Sphäre vortäuschen zu wollen. Wo früher die Kenntnis des metaphorischen Märchensprachschatzes war, ließ ich meine Phantasie spielen und habe mir genau überlegt, welche Chiffren das Märchen benutzt für welche Verhältnisse, in denen ich mich heute wiederfinde.

Warum läßt du das Märchen nicht von einem Sprecher erzählen, sondern arbeitest mit verschiedenen Stimmen?

Das hat mehrere Gründe.
Einer hat mit der „Vergegenwärtigung“ dieses Stoffes zu tun. So etwas spielt sich ja immer in verschiedenen Graduierungen ab, darüber hängt dann noch das, was man Ausdruck an Realität nennen könnte.
Ein einzelner Erzähler schafft eine geschlossene Atmosphäre, suggeriert einen intakten Raum, stellt einen beruhigenden, weil filternden Gegenpol zu dem dar, wovon er erzählt, er hat eine vom Märchen uneinnehmbare Souveränität – mit einem Wort: er verzerrt, was ich die Geschichtsschreibung im Märchen nannte, indem er sie entrückt.
Die vielen Stimmen dagegen desorientieren den Zuhörer, wenn er da was braucht, muß er es selbst entwickeln. Er kann sich nicht wohlig absondern, sondern das Märchen rückt ihm auf den Leib.
Ein anderer Punkt ist die „Vervielfältigung des Zutreffens“: wovon viele erzählen, das ging durch vieler Köpfe.
Darüber hinaus hört man vielerlei Stimmgenres: junge, alte, laienhafte, professionelle. Die Sprache schon bildet ein reichgestaltetes Relief, in dem sich jeweils eine bestimmte Seite des Stoffes eigenwillig ausdrücken kann.
Immer kommt der Stoff in einer ganz bestimmten Weise zum Vorschein. Und in dem Maß, wie das – z.B. durch Freisetzen von Assoziationskraft – auf mich beziehbar wird, gibt es einen Zug von Realität.
Mit diesem Blick habe ich auch die Aufnahmen gemacht, manche im Studio, sehr viele außerhalb oder mit zufälligerweise unzulänglichen Geräten oder Aufnahmesituationen und die Spuren davon habe ich drangelassen.

Hast du die verschiedenen Sprecher und Sprecherinnen nur mit der Stelle konfrontiert , die sie sprechen sollten?

Nein. Ich habe immer das ganze Märchen erzählt. Und die haben sich dann mit dem Märchen beschäftigt, sodaß vieles aus ihrem Verständnis des Märchens heraus entstanden ist; das Märchen ist so das Ergebnis von vielen verschiedenen Wahrnehmungen.
Bis auf zwei Ausnahmen gibt es keine Wiederholungen von Stimmen. Das hat folgenden Sinn: Das Märchen entfernt den, der es hört, gedanklich irgendwohin, immer wieder an andere Orte. Trauligkeit bleibt aus, keine schaurig-angenehme Wohligkeit. Ich denke, daß dies der Domestizierung dieses grausigen Stoffes entgegenarbeitet. Jeder dieser katastrophalen Vorgänge ist von neuem schlimm und fordert sozusagen je eigene Verarbeitungsenergie heraus.
Die Märchen laufen immer wieder zum Ausgangspunkt zurück. Diese Versöhnung sollte eben hier nicht in Gang gebracht werden. Das Märchen sollte so erzählt werden, daß es an jeder Stelle offen ist, nicht mehr zurückgedreht werden kann, was gleichzeitig die Abbildung des Zerstörungsvorganges enthält.

Die Geschichte, die das Märchen erzählt, ist ja sehr grausam. Die Stiefmutter bringt den Sohn um, kocht ihn in der Suppe, die der Vater ißt, ohne zu wissen, daß er seinen eigenen Sohn verspeist. Faszinierte dich die Brutalität des Märchens?

Man scheint früher eine besondere Lust verspürt zu haben, sich diese Tötungsvorgänge zu erzählen und in allen Einzelheiten auszumalen. Ich muß mir eingestehen, daß ich diese Lust auch kenne. Das Problem ist ja nur, wie man sie verschleiert, also benennt. Dieses Märchen bietet eine von den Bildern her moralisch fast frivole, dazu literarisch außergewöhnlich hochrangige Möglichkeit an, die bedrohliche Faszination der Widersprüche von Brutalität und Schönheit, Tötungslust und – leid etc. faßbar zu machen.

Der Vogel spielt dabei ja eine besondere Rolle. Wie siehst du sie?

Das Lied des Vogels ist der weitverbreitete Kern des Märchens. Zugleich Inbegriff der widersprüchlichen Form, in der sich dergleichen offenbar nur sagen läßt, sodaß sein Sinn zerrinnen würde, wenn man den Widerspruch aufheben wollte.
Die verabscheuungswürdige Tötungsgeschichte gewinnt durch die Musik ein neues Wesen: man wird von ihr bezaubert. Das ist ja eine ganz atemberaubende Dialektik in Sachen Wirkung der Musik und weißgott nicht unaktuell.
Aber die Rolle des Vogels geht darüber hinaus: Er – der Bruder – rächt den Mord der Mutter, und indem er das tut – so legt eine Deutung des Märchens jedenfalls nahe – installiert und vollendet er das Patriarchat. Das heißt: Die Mutter geht unter, der Sohn nimmt ihre Stelle ein. Im Laufe der Arbeit ist mir klar geworden, daß der „Machandelboom“ auch ein Frauendrama ist. Hinter der Geschichte der Frau steht u.a. die historische Tatsache, daß sie als Stiefmutter, d.h. zweite Frau, finanziell sehr schlecht stand – das war noch im letzten Jahrhundert so – und das Vermögen, das dem Sohn eigentlich zustand, ihrer leiblichen Tochter zuschanzen wollte. Deswegen bringt sie den Jungen ja um. Als Frau hat sie damit sozusagen alles Menschenmögliche getan, um ihren eigenen Stand zu verbessern.

Deine Auffassung von Realismus in der Musik spielt auch in der Behandlung der Instrumente und in der Auswahl des Instrumentariums eine große Rolle. Du verwendest ja auch alle möglichen Geräuscherzeuger, die sonst eher in Küche, Büro und Wohnung eine Rolle spielen als in der Musik?

Ich finde es wichtig, Instrumente und Klänge zu verwenden, die man nicht genau einordnen kann und deren Ortung man nur durch Assoziationen herstellen kann. Ein bestimmter Klang könnte sowohl das sein als auch das – ein Studioinstrument oder ein Haushaltsinstrument. Ich habe die einzelnen Klänge für jede Szene mit ungeheurer Mühe ausgesucht und sehr genau daran gearbeitet, bis ich glaubte, das ist es jetzt.

Es ist klanglich ja nicht so gemacht, daß man einen Bruch zwischen traditionellen Instrumenten und unorthodoxen Geräuscherzeugern hört, sondern vielfältige Beziehungen bestehen zwischen den verschiedenen Klängen und Geräuschen, die der Phantasie einen großen Spielraum eröffnen.

Ja, genau. Aber das habe ich nicht von einem übergeordneten Klangbegriff aus gemacht – etwa durch eine Systematik von Klängen und Geräuschen. Ich habe, wie gesagt, die einzelnen Klänge für jede kleine Szene sehr genau so ausgesucht, daß der einzelne Klang in diese oder jene Richtung verweisen kann. Es gibt auch keine zeitlichen Orte, sondern der Hörer soll das Gefühl haben, das spielt sich in der Brust von diesem oder jenem ab – es gibt keine zeitliche Kontinuität.
Auch was den Stil der Musik anbelangt, war ich ganz scharf darauf, jegliche musikalische Systematik zu vermeiden. Da sind free-jazz-Elemente drin, durch den Synthesizer taucht eine neue Sphäre auf, mal gibt es 12-tönige Momente.
In der Systematik liegt Sicherheit, Ordnung, Maß. Zu den gegensätzlichen Elementen des Märchens gehört aber eine geradezu maßlose Illegalität in der Verfügung über das Leben.

(1983)

 

 
       
       
       
       
       
   
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