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Kommentar: |
Interview Rolf Riehm – Wolfgang Hamm
über den „Machandelboom“
Was hat dich an diesem Märchen als Stoff gereizt?
Es gibt Zeiten, in denen bestimmte Stoffe immer wieder auftauchen. Und
dieses Märchen, das ich als Kind schon kannte, aber eigentlich übersprungen
hatte, weil ich es zum Teil gar nicht verstanden hatte, hat mich plötzlich
wieder stark beschäftigt. Die Zuspitzung von Gewalt in den persönlichen
Beziehungen fand ich in diesem Märchen auf eine nicht mehr reduzierbare
klare Form gebracht. Sehr beeindruckt hat mich, daß das so offen
ausgesprochen und ganz unsentimental dargestellt wird.
Es klingt vielleicht trivial, wenn ich einen Sprung in die Gegenwart mache,
aber ich erlebe z.Z. das, was sich politisch abspielt, auf eine ähnliche
Weise. Wenn man z.B. die Reden von Reagan hört, die Begründungen
für seine Rüstungsmaßnahmen vor dem Kongreß, denkt
man, das kann doch einer, der darüber zu entscheiden hat, nicht auf
so naive Weise begründen. Da muß doch noch mehr kommen, aber
es kommt nicht mehr.
Was mich auch beschäftigt hat, die Szenen mit Cohen, diesem „Vater
der Neutronenbombe“ im Film von Alexander Kluge. Das war auch eine
Märchenerzählung.
Für mich ist klar, daß das Märchen nicht etwas Abgehobenes
ist, sondern daß es geschichtliche Erfahrung wiedergibt.
Es gibt natürlich viele Möglichkeiten, Märchen zu interpretieren,
psychologische, soziologische, ethnologische usw. Ich bin im nachhinein
froh darüber, daß ich mir wenig Gedanken darüber gemacht
habe, wie man das alles deuten könnte. Ich habe mich nicht als ein
Erklärender, sondern als ein Zuhörender verhalten, ohne eine
„alltägliche“ Vertrautheit mit dieser Sphäre vortäuschen
zu wollen. Wo früher die Kenntnis des metaphorischen Märchensprachschatzes
war, ließ ich meine Phantasie spielen und habe mir genau überlegt,
welche Chiffren das Märchen benutzt für welche Verhältnisse,
in denen ich mich heute wiederfinde.
Warum läßt du das Märchen nicht von einem Sprecher
erzählen, sondern arbeitest mit verschiedenen Stimmen?
Das hat mehrere Gründe.
Einer hat mit der „Vergegenwärtigung“ dieses Stoffes
zu tun. So etwas spielt sich ja immer in verschiedenen Graduierungen ab,
darüber hängt dann noch das, was man Ausdruck an Realität
nennen könnte.
Ein einzelner Erzähler schafft eine geschlossene Atmosphäre,
suggeriert einen intakten Raum, stellt einen beruhigenden, weil filternden
Gegenpol zu dem dar, wovon er erzählt, er hat eine vom Märchen
uneinnehmbare Souveränität – mit einem Wort: er verzerrt,
was ich die Geschichtsschreibung im Märchen nannte, indem er sie
entrückt.
Die vielen Stimmen dagegen desorientieren den Zuhörer, wenn er da
was braucht, muß er es selbst entwickeln. Er kann sich nicht wohlig
absondern, sondern das Märchen rückt ihm auf den Leib.
Ein anderer Punkt ist die „Vervielfältigung des Zutreffens“:
wovon viele erzählen, das ging durch vieler Köpfe.
Darüber hinaus hört man vielerlei Stimmgenres: junge, alte,
laienhafte, professionelle. Die Sprache schon bildet ein reichgestaltetes
Relief, in dem sich jeweils eine bestimmte Seite des Stoffes eigenwillig
ausdrücken kann.
Immer kommt der Stoff in einer ganz bestimmten Weise zum Vorschein. Und
in dem Maß, wie das – z.B. durch Freisetzen von Assoziationskraft
– auf mich beziehbar wird, gibt es einen Zug von Realität.
Mit diesem Blick habe ich auch die Aufnahmen gemacht, manche im Studio,
sehr viele außerhalb oder mit zufälligerweise unzulänglichen
Geräten oder Aufnahmesituationen und die Spuren davon habe ich drangelassen.
Hast du die verschiedenen Sprecher und Sprecherinnen nur mit der
Stelle konfrontiert , die sie sprechen sollten?
Nein. Ich habe immer das ganze Märchen erzählt. Und die haben
sich dann mit dem Märchen beschäftigt, sodaß vieles aus
ihrem Verständnis des Märchens heraus entstanden ist; das Märchen
ist so das Ergebnis von vielen verschiedenen Wahrnehmungen.
Bis auf zwei Ausnahmen gibt es keine Wiederholungen von Stimmen. Das hat
folgenden Sinn: Das Märchen entfernt den, der es hört, gedanklich
irgendwohin, immer wieder an andere Orte. Trauligkeit bleibt aus, keine
schaurig-angenehme Wohligkeit. Ich denke, daß dies der Domestizierung
dieses grausigen Stoffes entgegenarbeitet. Jeder dieser katastrophalen
Vorgänge ist von neuem schlimm und fordert sozusagen je eigene Verarbeitungsenergie
heraus.
Die Märchen laufen immer wieder zum Ausgangspunkt zurück. Diese
Versöhnung sollte eben hier nicht in Gang gebracht werden. Das Märchen
sollte so erzählt werden, daß es an jeder Stelle offen ist,
nicht mehr zurückgedreht werden kann, was gleichzeitig die Abbildung
des Zerstörungsvorganges enthält.
Die Geschichte, die das Märchen erzählt, ist ja sehr grausam.
Die Stiefmutter bringt den Sohn um, kocht ihn in der Suppe, die der Vater
ißt, ohne zu wissen, daß er seinen eigenen Sohn verspeist.
Faszinierte dich die Brutalität des Märchens?
Man scheint früher eine besondere Lust verspürt zu haben, sich
diese Tötungsvorgänge zu erzählen und in allen Einzelheiten
auszumalen. Ich muß mir eingestehen, daß ich diese Lust auch
kenne. Das Problem ist ja nur, wie man sie verschleiert, also benennt.
Dieses Märchen bietet eine von den Bildern her moralisch fast frivole,
dazu literarisch außergewöhnlich hochrangige Möglichkeit
an, die bedrohliche Faszination der Widersprüche von Brutalität
und Schönheit, Tötungslust und – leid etc. faßbar
zu machen.
Der Vogel spielt dabei ja eine besondere Rolle. Wie siehst du sie?
Das Lied des Vogels ist der weitverbreitete Kern des Märchens. Zugleich
Inbegriff der widersprüchlichen Form, in der sich dergleichen offenbar
nur sagen läßt, sodaß sein Sinn zerrinnen würde,
wenn man den Widerspruch aufheben wollte.
Die verabscheuungswürdige Tötungsgeschichte gewinnt durch die
Musik ein neues Wesen: man wird von ihr bezaubert. Das ist ja eine ganz
atemberaubende Dialektik in Sachen Wirkung der Musik und weißgott
nicht unaktuell.
Aber die Rolle des Vogels geht darüber hinaus: Er – der Bruder
– rächt den Mord der Mutter, und indem er das tut – so
legt eine Deutung des Märchens jedenfalls nahe – installiert
und vollendet er das Patriarchat. Das heißt: Die Mutter geht unter,
der Sohn nimmt ihre Stelle ein. Im Laufe der Arbeit ist mir klar geworden,
daß der „Machandelboom“ auch ein Frauendrama ist. Hinter
der Geschichte der Frau steht u.a. die historische Tatsache, daß
sie als Stiefmutter, d.h. zweite Frau, finanziell sehr schlecht stand
– das war noch im letzten Jahrhundert so – und das Vermögen,
das dem Sohn eigentlich zustand, ihrer leiblichen Tochter zuschanzen wollte.
Deswegen bringt sie den Jungen ja um. Als Frau hat sie damit sozusagen
alles Menschenmögliche getan, um ihren eigenen Stand zu verbessern.
Deine Auffassung von Realismus in der Musik spielt auch in der Behandlung
der Instrumente und in der Auswahl des Instrumentariums eine große
Rolle. Du verwendest ja auch alle möglichen Geräuscherzeuger,
die sonst eher in Küche, Büro und Wohnung eine Rolle spielen
als in der Musik?
Ich finde es wichtig, Instrumente und Klänge zu verwenden, die man
nicht genau einordnen kann und deren Ortung man nur durch Assoziationen
herstellen kann. Ein bestimmter Klang könnte sowohl das sein als
auch das – ein Studioinstrument oder ein Haushaltsinstrument. Ich
habe die einzelnen Klänge für jede Szene mit ungeheurer Mühe
ausgesucht und sehr genau daran gearbeitet, bis ich glaubte, das ist es
jetzt.
Es ist klanglich ja nicht so gemacht, daß man einen Bruch zwischen
traditionellen Instrumenten und unorthodoxen Geräuscherzeugern hört,
sondern vielfältige Beziehungen bestehen zwischen den verschiedenen
Klängen und Geräuschen, die der Phantasie einen großen
Spielraum eröffnen.
Ja, genau. Aber das habe ich nicht von einem übergeordneten
Klangbegriff aus gemacht – etwa durch eine Systematik von Klängen
und Geräuschen. Ich habe, wie gesagt, die einzelnen Klänge für
jede kleine Szene sehr genau so ausgesucht, daß der einzelne Klang
in diese oder jene Richtung verweisen kann. Es gibt auch keine zeitlichen
Orte, sondern der Hörer soll das Gefühl haben, das spielt sich
in der Brust von diesem oder jenem ab – es gibt keine zeitliche
Kontinuität.
Auch was den Stil der Musik anbelangt, war ich ganz scharf darauf, jegliche
musikalische Systematik zu vermeiden. Da sind free-jazz-Elemente drin,
durch den Synthesizer taucht eine neue Sphäre auf, mal gibt es 12-tönige
Momente.
In der Systematik liegt Sicherheit, Ordnung, Maß. Zu den gegensätzlichen
Elementen des Märchens gehört aber eine geradezu maßlose
Illegalität in der Verfügung über das Leben.
(1983)
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