Titel:

He, tres doulz roussignol joly (1978)

 
  Besetzung: Orchester  
  Dauer: 16 Min  
  Uraufführung: Saarbrücken, Funkhaus Halberg Großer Sendesaal 5.Oktober 1979 Radiosinfonieorchester Saarbrücken Leitung: Hans Zender  
  Auftrag: Saarländischer Rundfunk  
  Aufnahme: Saarländischer Rundfunk Saarbrücken (näheres über kontakt@rolf-riehm.de)  
  Kommentar: Rolf Riehm  
   

Diese ferne Zeit...

Der Saarländische Rundfunk ging, auf Anregung seines damaligen Chefdirigenten Hans Zender, ein Projekt an, Musik aus der Zeit vor Monteverdi – also bevor sich so etwas wie eine symphonische Standardbesetzung anbahnte – in den Konzertsaal zu holen und beauftragte einige Komponisten, sich daran zu beteiligen.
Welche Epoche wir uns für unsere Bearbeitung oder Transskription oder wie auch immer aussuchten, war offen. Ich folgte einem eher kultursoziologischen Impuls und wollte die Übertragung der Musik so anlegen, daß man zugleich Spuren ihres gesellschaftliches Zusammenhanges wahrnehmen könnte. Als Arbeitsvorstellung hatte ich das Bild einer Sonde vor Augen, die ich in Gestalt der Instrumentierung an dieser Musik ansetze und so tief führe, daß ich auf die Veranlassung der Musik stoße. Eine Art musikalisches Soziogramm wäre denkbar, in dem die offizielle Musik, die der Kirchen und Höfe, mit der niederen und der niedrigsten, der Musik der Tanzböden und Lotterpfaffen, konfrontiert wird. Ich mache sie durch die Instrumentation vergleichbar und die Unvereinbarkeit, die dahinter stand, wird umso deutlicher. Ein kleiner spekulativer Aspekt: die knarrende, aufsässige Musik von damals – die fahrenden Spielleute waren der unterste Bodensatz, Gesindel und Lumpen, die Eiterbeulen der Rechtsordnung – diese Musik schlägt nach 500 Jahren endlich einmal zurück, sozusagen mit symphonischer Wucht. Mein Plan war, was damals offiziell nicht zu Worte kam, jetzt reden zu lassen und – kulturell – zu seinem Recht zu verhelfen.

Mein Quellenstudium ergab allerdings, daß die Musikforschung zwar die Codices der Haute Couture gesammelt und sorgfältig ediert hat - aber der Fiedler zu Frankfurt hat offensichtlich nichts aufgeschrieben. Er konnte nicht schreiben, das Pergament war zu teuer und vor allem: seine Musik war flüchtig, wie er selbst. Die Spielleute sind in ihrer musikalischen Existenz heute nicht mehr greifbar, sowenig sie es in ihrer materiellen damals waren. Man kann sich von ihrer Musik ein Bild machen, die Instrumente sind bekannt, die Tonarten, die Formen. Im Verhältnis zur Masse der schriftlich fixierten Musik hat sie sich aber ziemlich vollständig verdrückt.
Das braucht einen nicht zu wundern, die Überlieferung der Analphabeten geschieht halt mündlich und ich mußte meine Idee vom musikalischen Soziogramm abschreiben. Aber ich war auf die soziale Realität dieser Musik gestoßen. Die Lebendigkeiten traten deutlich hinter der Musik hervor und ich lernte, mich dieser geschichtlichen Vitalität gegenüber nicht technisch, sondern ebenfalls geschichtlich, d.h. als Person mit konkreten Erfahrungen und Absichten zu verhalten.

So stieß ich auf eine Publikation von Willi Apel, die unter anderem Kompositionen aus der Zeit um 1380 enthält, Stücke französischer Musiker bzw. solcher, die in Frankreich zeitweise oder ständig gearbeitet haben. Die großen Namen der Epoche sind Guillaume de Machaut, gestorben 1377 und Guillaume Dufay, knapp ein Jahrhundert später gestorben. Aber mich interessierten die Komponisten, die dazwischen lagen. An den Stücken der sogenannten Übergangszeiten kann man oft besser ablesen, was verlangt wurde und welche Kultur die Auftraggeber hatten. Die Stile der Zeit treten bei diesen Komponisten auch gelegentlich deutlicher hervor, weil sie Details gleichsam unabgelenkt durch einen überstarken Ausdruckswillen konsequenter weiterentwickeln. Im Vergleich zu den abgeklärten Werken wirkt das bizarr, aber was heißt das.

Matheus de Perusio war ein Musiker dieser Art. Er ist als Sänger an der Kathedrale von Mailand nachweisbar, muß aber davor, wie Apel meint, in Avignon gewesen sein. Er war nicht der einzige Italiener, den es an den päpstlichen Hof in Südfrankreich gezogen hat. Zu seiner Zeit residierten dort nunmehr die Gegenpäpste, nachdem sich die römischen Päpste als die rechtmäßigen hatten durchsetzen können. Avignon war ein Sammelbecken internationaler Künstler. „Ein glänzender Hof, der vornehmste in Europa.“ Der Gewährsmann fährt fort: „Eine gewaltige Zahl an Kammerherren, Dienern, Diplomaten, Gesandten und Botschaftern drängte sich im Palast, sie beanspruchten Aufmerksamkeit und kämpften um die päpstliche Gunst. Eine verschwenderische Überspanntheit beherrschte alles Denken“. Dem päpstlichen Hof standen einige andere in Südfrankreich und Spanien an Luxus kaum nach und der gönnerhaften Begünstigung konnten sich hier wie dort alle Kunstsparten erfreuen. In der Musik bildete sich ein „Manieristischer Stil“ aus, der sich von der Kunst Machauts durch Verfeinerung, sozusagen durch geschmäcklerische Zuspitzung, abhob.
Dieser Stil hatte durchaus höfisches, exklusives Gepräge und wurde auch nur an entsprechenden Orten gepflegt. Apel betont ausdrücklich die Verbindung von Manieristischem Stil und exquisiter Kultur. Vor einem liegen Musikstücke für den allerfeinsten Geschmack und man kann sich die Atmosphäre des small-talk gut vorstellen, in der diese Musik für das akustische Aroma zu sorgen hatte. Die Komponisten paßten sich auch skrupellos an. Nicht nur Perusio, auch Johannes Ciconia schrieb speziell für diese Höfe gebrechliche Gespinste, während er sonst einem eher handfesten Stil huldigte.

Ich stellte fünf Stücke zusammen, in denen diese Züge durch den Kontrast von abstraktem Tonspiel und Bezug auf Naturklänge hervortreten. In drei von ihnen hat sich die Materialbehandlung vollständig von der Inanspruchnahme eines nachvollziehbaren Ausdrucksbedürfnisses gelöst, die atemberaubende Dissonanzbehandlung und Rhythmik sind nur noch für sich selbst da. Zwei Stücke zieren sich mit Klischees naturverbundener Musizierpraxis wie: liedhafte Melodik, an Dudelsackklänge erinnernde Begleitfiguren, und immer wieder die Kuckucksterz. Bei meiner Arbeit halte ich mich strikt an die Originale, neue Töne füge ich nicht hinzu, sieht man von Trillern oder gelegentlichen Umspielungen ab; in die Polyphonie der Stimmen greife ich so gut wie nie ein.
Die Instrumentierung habe ich so angelegt, daß zwei Momente zur Geltung kommen.
Zum einen soll die kaltschnäuzige Kunstfertigkeit hörbar werden, und zwar im Verhältnis zu den Erwartungen einem symphonischen Klangkörper gegenüber. Die Manierismen dieser Stücke liegen ja in der Radikalisierung stilistischer Eigentümlichkeiten, die nur dem als solche auffalllen, der die Musik dieser Zeit kennt. Um dem Hörer heute die Stücke als manieristisch erscheinen zu lassen, wäre z.B. nichts gewonnen, wenn ich auf die Dissonanzbehandlung durch die Instrumentation besonders hingewiesen hätte. Nicht die Manierismen waren zu instrumentieren, sondern die Musik mußte manieristisch instrumentiert werden. Ich nahm der Orchesterbehandlung gegenüber die gleiche abgehobene, nur auf delikate Wirkung bedachte Haltung ein, wie ein Perusio dies der Materialbehandlung in der damaligen Musik gegenüber tat. Ich habe mich sozusagen in einen Zustand kompositorischer Affektiertheit, Unwahrhaftigkeit begeben.

Neben dieser artifiziellen Abgehobenheit wollte ich noch etwas anderes erreichen. Ich greife auf diese oder jene Technik zurück, um die Originale in einem bestimmten Licht erscheinen zu lassen. Meine eigene manieristische Haltung dient der Darstellung der Haltung jener Leute, für die diese Musik gemacht wurde. Das ist ein theatralischer Aspekt und ich möchte meine Arbeit daher nicht „Instrumentation“ nennen, sondern „instrumentale Inszenierung“.
Die Lemuren von Avignon, sie geben sich in dieser Inszenierung ein spätes Stelldichein. Die Dramaturgie der Orchesterbehandlung war von dem Bild einer höfischen Soiree bestimmt.

Ein Beispiel.
Ung lion say ist eine dreistimmige Ballade. Ich habe mir das Stück stimmenweise in kleine Abschnitte aufgeteilt, die sich ungefähr an den zahlreichen Pausen orientieren. Aus einer Reihe von Charakteren nach Art der Couperinschen Cembalomusik – kapriziös, kühl, zärtlich, ungeschlacht, spitzbübisch, lahm, leidenschaftlich – habe ich Artikulations- und Besetzungsformen entwickelt, in denen diese kleinen Abschnitte erklingen.
„Kapriziös“ etwa: eine Phrase von vier Tönen . Gegeneinander versetzt spielende

Solostreicher lösen die Figur in pizzicato- und Springbogen-Tupfer auf, die teils von unten, teils von oben die Originallage in Oktavsprüngen anspringen, ein Englischhorn füllt diesen Oktavraum im staccato aus.
Oder: „Ungeschlacht“. Eine Phrase von nur zwei Tönen . Nacheinander drücken drei

Hörner mit grobem crescendo diese Töne hervor, polternd, rüde, zwei hohe Kontrabässe schieben ebenfalls einen Ton vor sich her, schon mit starker Geräuschbeimischung: zusammen ein dumpfes, geräuschhaftes Getöse auf diesen beiden Tönen.
Nun hat etwa die Oberstimme „kapriziös“, die mittlere „ungeschlacht“ und die untere „kühl“. Die Charaktere treten zu verschiedenen Zeiten in den Stimmen ein. So geht das fort in einer bunten Polyphonie von kleinsten Charakterskizzen: buckelnde Gecken und schillernde Pfauen; dichtes Gedränge, krachende Selbstdarstellung, ein dröhnendes Nichts an Zuwendungswilligkeit, dazwischen immer wieder Blitze kollektiver, synchroner Neugier.

Ein anderes Beispiel.
Alarme, alarme, ein vierstimmiges Virelais (eine volksliednahe Form) nach Art eines Schäferliedes mit

stereotyper Kuckucksrufphrase: . Diese Phrase erscheint anfangs häufig,

verliert sich im Laufe des Stückes, das liegt schon im Original. Bei mir wird sie jeweils keck und munter vorgetragen. Sie erzeugt sogleich eine Belebung im Tempo und in der Besetzung, diese hellt sich auf, wird schlanker, dabei vielfältiger, so als habe sie ein erfrischender Atem angeweht. Die Kraft der Naturerinnerung reicht jedoch nicht lange hin, das Tempo läßt nach, die Besetzung wird voluminöser, einförmiger, schwerfälliger, alle Instrumente treten allmählich hinzu, halten die Musik am Boden. Virelai, eine muntere Tanzform, das ist nichts für diese Stelzfüße, man ist müde geworden, außerdem gibt es draußen so viele Stechmücken.

(1979)

 
       
       
       
       
       
   
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