Titel: Hawking (1998)  
  Besetzung: Klavier, Große Trommel und sechs Instrumente  
  Dauer: 30 Min.  
  Uraufführung: 30.März 2000, Freiburg, Morat - Institut
Ensemble Recherche, Christoph Grund, Klavier, Christian Dierstein, Große Trommel
 
  Verlag: Ricordi, München  
  Auftragswerk des Landes Baden-Württemberg  
  Aufnahme: WDR Köln (näheres über kontakt@rolf-riehm.de)  
  Kommentare:

Rolf Riehm

Ich sehe das Foto des Physikers Hawking vor mir, das mal im Spiegel erschienen war und auch sonstwo oft zu sehen ist. Er hängt, muß man ja sagen, in seinem Rollstuhl, der Kopf dem Betrachter zugewandt und er lächelt, anscheinend ganz unbefangen und guter Dinge. Es ist bekannt, daß er mittlerweile total bewegungsunfähig ist und sich nur mit Hilfe eines Sprachcomputer verständigen kann, weder kann er schreiben noch sonst etwas tun, gar nicht zu reden von einer praktischen Laborarbeit oder ähnlichem.
Auf diesem Foto sitzt er vor einer sehr großen Reproduktion des nächtlichen Sternenhimmels. Dieser Mann, ein Häufchen Mensch nur noch, voll von exorbitantem Wissen in der Perspektive des Weltraums. Eine Metapher der unendlichen Außenbegrenzung, wie eine riesige Röhre, und am Eingang davon dieses hochkomplexe Wesen, in die Röhre mit endlos langen Strahlen hineinragend.

(2000)

Peter Sigl (in: Programmheft des Konzertes des Österreischichen Ensembles für neue Musik (oenm)am 7.3.2002 in Salzburg, Mozarteum)

Der Frankfurter Komponist Rolf Riehm gab seinem 1999 fertiggestellten Ensemblestück den Titel "Hawking". Damit erweist er dem berühmtesten Vertreter der theoretischen Physik eine Referenz, ohne sich allerdings auf das Werk von Stephen Hawking zu beziehen. Vielmehr hat ihn ein Foto vom Wissenschaftler, das er in einer Zeitschrift entdeckte, gefangen genommen.

"Ich sehe einen Menschen sitzen, an einen Rollstuhl gefesselt, an Apparate angeschlossen, freundlichst den Betrachter anlächelnd, vor der Reproduktion eines Himmelsgewölbes, und es hat mich selten eine Fotografie derartig in den Bann geschlagen wie dieses Bild, also es ist zunächst mal dieser rein sensualistische Touch dieses riesigen Kontrastes, daß da jemand sitzt, der gedanklich, was hinter ihm zu sehen ist, ja offensichtlich beherrscht, und selbst durch seine körperliche Behinderung auf den ersten Anschein in dieser Dimension nicht mehr agieren kann. Tatsache ist aber, daß er nun grade einer der ganz großen Akteure in dieser Universumsdimension ist, und das fand ich von der Konstellation der Kontraste her absolut hinreißend."

Rolf Riehm übersetzte seinen Eindruck vom Hawking-Foto in ein kompositorisches Konzept. Es ging ihm nicht um irgendeine Allegorie oder eine Mystifizierung des Universums, sondern schlicht um das im Foto enthaltene Raumbild. Dieses übertrug er in eine musikalische Raumkonzeption. Die Wände des jeweiligen Aufführungsortes bilden das Himmelsgewölbe. An diesen Wänden stehen wie die Sterne am Himmel die Musiker, während das Publikum in der Mitte sitzt. Rolf Riehm errichtete damit eine akustische Situation, die durch eine umhüllende Begrenzung definiert ist, die Wände des Konzertsaals, und durch die Markierung von Stellen, an denen Klänge zu hören sind, die Standorte der Musiker.

Diese Aufstellung hat aufführungspraktische Konsequenzen. Sie erschwert zum Beispiel die Koordination der Musiker untereinander. Wenn sie Zeichen geben, müssen sie in verschiedene Richtungen blicken und hören weit entfernte Musiker sehr unterschiedlich laut. Ein Ensemblegefühl kann dabei nur schwer aufkommen. Der Blick auf das Ganze scheint für den einzelnen Musiker nur mit Schwierigkeiten realisierbar zu sein.

Eine solche Isolierung der Instrumente durch räumliche Distanz wird von einer kompositorischen Isolierung begleitet. Was in "Hawking" zu hören ist, besteht vom kompositorischen Konzept her eher aus Einzelereignissen als aus einem vom Ensemble erzeugten Gesamtklang. Selbst bei gemeinsamen Aktionen, wenn beispielsweise die Streicher- oder die Bläsergruppe eine akkordische Struktur spielen, bricht Rolf Riehm das Simultane einer solchen Aktion zugunsten von Trennendem auf, denn die Töne eines Zusammenklangs setzen in der Regel mehr oder weniger ungleichzeitig ein. Rolf Riehm provoziert damit eine Unschärfe, die das Hören zwangsläufig vom Ganzen ablenkt und auf das Einzelne richtet.

Der Komponist spielt nun mit diesem Blick auf das Einzelne. Er spricht von unterschiedlichen Auflösungen, in denen er die Klangereignisse komponiert, in Analogie zu dem astronomischen Bild, das das Stück inspiriert hat: So, wie man mit dem Teleskop eine mehr oder weniger starke Vergößerung wählen kann, so werden musikalische Elemente in niedriger oder höherer Auflösung auskomponiert.

Unter dieser Perspektive ist der umfangreiche, sehr virtuose und dichte Klavierpart das am höchsten aufgelöste Element des Stücks. Rolf Riehm komponierte ihn nicht durch Strukturieren und Gestalten von musikalischem Material, sondern gestisch, von der Aktivität der Arme aus. Er ließ Hände und Arme auf die Tasten fallen und fixierte die Noten nach Maßgabe dieser Choreographie seines Körpers. Dadurch ergaben sich sehr komplexe, in sich hochdifferenzierte Gestalten, die den Raum des klaviertechnisch Möglichen experimentell ausschreiten und mit ihm den Raum des für das Klavier Komponierten. Man hört Anklänge an Musik unterschiedlicher Herkunft, an Romantisch-Expressives, an Komplex-Strukturelles oder an Klanglich-Meditatives.

Diese ausufernde Klavierstimme wird konterkariert durch den Schlagzeugpart, dem eine ähnlich dominante, von seiner Gestalt her aber gegensätzliche Charakteristik anhaftet. Seine insistierenden, in ungleichen Rhythmen repetierten Trommelschläge sind klare Einzelereignisse, keine komplexen Strukturen. In der Metapher des Komponisten gesprochen ist die Musik hier auf eine niedrige Auflösung fokussiert.

Dieser Schlagzeugpart beherrscht vor allem den letzten Teil des Stückes sowie sein Ende. Langgedehnte Pausen zwischen den Einzelschlägen und den kleinen, rhythmisch strukturierten Gruppen lassen dabei die großformalen Konturen verschwimmen. Die Unregelmäßigkeit der Pausen unterläuft darüberhinaus jedwede gestalterische Logik und bricht mit der Idee eines formalen Rahmens, innerhalb dessen die Gestalt des Werks zu fassen wäre. Dazu schreibt der Komponist in der Partitur:"Es beginnt hier ein verwirrtes Ende. Die lapidaren Anschlagselemente fügen sich nicht zu einer abgerundeten finalen Form. Das Stück endet mit einer formalen Unwucht."

 

 
  Rezensionen: Daß neue Musik im letzten Jahrhundert zweimal vor dem Hintergrund der Weltkriege definiert wurde und somit der Begriff weniger eine Epoche als einen Wandlungsprozeß auch mit politisch-gesellschaftlichen Implikationen meint, daran erinnerte Mathias Spahlingers dadaistisches "éphémère"..., aber mehr noch Rolf Riehms wuchtiger, klanglich spröder, dynamisch aber konziser Abgesang auf die Kreatur.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Das Werk, angeregt von einer Fotografie des ganzkörpergelähmten britischen Astrophysikers, der vor einer Rückprojektion des Weltalls in die Kamera lächelt, konnte als die Wasserscheide der aktuellen Darmstädter Komponier-Semantiken gelten; kein Expressionismus, aber auch kein mathematisch-physikalisches Ordnungssystem via Klang war die dreiviertelstündige Komposition für acht um das Publikum verteilte Musiker. Der an ein Bündel von Prothesen angeschlossene, lächelnde Kopf, der das kosmisch Ganze denkt, das ihm so nah ist wie sein unendlich entfernter Körper - er war in einen assoziativ fruchtbaren Klangraum gerückt, der aus lückenhafter Harschheit, blockartiger Härte und minutenlang währenden, heftigsten Schlägen auf die große Trommel bestand. Jeder Ton war eine Verausgabung, zeigte die Spuren physiologischer Herkunft, hatte seinen haptischen Grund.

Frankfurter Rundschau

Am nächsten an die materialinnovative und ebenso politisch motivierte Auslegung des Begriffs Neue Musik, wie sie einst Adorno definierte, kam Rolf Riehms sehr konsequentes Ensemblestück "Hawking" für acht Instrumente. Mit enervierenden Wirbeln und Einzelschlägen auf der Großen Trommel, mit weit gespreizten Registermischungen zwischen Baßklarinette, Piccoloflöte und Oboe und mit sirenenartigen Mahnrufen aus dem gepreßten Bogenstrich des Violoncellos setzte das hochkonzentriert spielende Ensemble Recherche Riehms vertontes Leiden der Kreatur - gemeint ist der kranke Astrophysiker Hawking - wirkungsvoll in klingende Szene. Riehm zeigte sich mit seiner "urverknallten" Komposition abermals als gänzlich trendunabhängiger Musikarbeiter.

Frankfurter Allgemeine Zeitung
 
       
   
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