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Uraufführung:
Aufnahme: |
Frankfurt, Alte Oper Mozartsaal, Frankfurt
Feste
30.August 1994
Ensemble Modern, Leitung: Jonathan Nott
Cybele Records, Radio Bremen |
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Kommentar: |
Rolf Riehm
Nicht Annäherung, sondern Entfernung (Bach-misreading).
Ein Gedanke von H. H. Eggebrecht: wie immer man auch die Kunst der Fuge
spielt, man
v e r f ä l s c h t sie.
Ich stütze mich auf eine Theorie in der amerikanischen Literaturkritik,
entwickelt von Harold Bloom. Sie besagt, daß das „starke Lesen“
tradierter Texte das Fehl-Lesen (misreading) ist. Einzig durch misreading
entsteht neue Literatur.
Gerade der Contrapunctus XI ist ein Stück, das durch seine exorbitante
Konstruktion eine stützende, hinweisende oder gar interpretierende
Instrumentation kategorisch verbietet. Ich habe dem Stück gegenüber
eine fast kabbalistische Haltung eingenommen, eine vom Konzept her widersprüchliche:
das einzig angemessene Spiel ist das Nicht-Spiel. Ich versuche nicht,
Bach zu verstehen und daraus eine Fassung zu entwickeln. Dieses Stück
ist nicht zu verstehen, es ist das, was es ist. Die Frage ist dann, was
i c h ihm gegenüber bin. Das habe ich komponiert. Es geht darum,
den Berührungspunkt zu finden, in dem sich die gekrümmte Kugel
wieder trifft...
Die Technik dazu sind die aus der Rhetorik übernommenen „Figuren“,
die Bach selbst auch in der Kunst der Fuge angewandt hat: Wendungen, die
noch eine über ihren strukturellen Zusammenhang hinausgehende Bedeutung
haben. Auffälligkeiten, Unebenheiten oder auch Fehler des Tonsatzes
signalisieren ihr Vorhandensein (Querstand, übermäßige
Intervallschritte, falsche oder überhaupt fehlende Dissonanzauflösungen
u.v.a.m.). Sie lösen zentrifugale Kräfte aus; eine Bewegung
expansiv weg vom Material; die Spannung zwischen Konvention und ihrer
absichtsvollen Mißachtung. So verhalte ich mich zum Bach’schen
Notentext wie Bach selbst zum Konsens seiner Zeit: fehllesend, misreading.
Meine Grundfiguren sind die TMESIS („Zerschneidung“) und die
SUPRALATIO („Übertreibung“), und durch die HYPOTHYPOSIS
(„Abbildlichkeit“) überwuchert eine sprachliche/affektuöse
Metaphorik alles und jedes.
Mein Stück ist ein Gemenge aus rhetorischen und narrativen Figuren
(darunter besonders ausgeprägt das Bild einer von einem Fluß
(Bachfuge) durchzogenen Landschaft) und bildet als Ganzes gewissermaßen
eine SUPER-TMESIS. Es springt zwischen den Typen und Bildern abrupt hin
und her, immer in dem Bestreben, im Bannkreis der immensen Auratik des
Bach’schen Textes ein Terrain ungewisser Gegenwart zu besetzen.
(1994)
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