Titel: Die Erde ist eine Schale von dunkelm Gold (1966/99)
(Zwei Bach-Paraphrasen)

1. Garten. Nacht und Mondschein (1999)
2. Leonce und und... (1966)

 
  Besetzung: Sopran, Tenor, Bariton und Orchester  
  Dauer: 28 Min.  
  Uraufführung: 1.Oktober 2000, Hannover EXPO
Ksenija Lukic, Sopran, Christoph Späth, Tenor, Yaron Windmüller, Bariton Sinfonieorchester des Saarländischen Rundfunks, Leitung Oswald Sallaberger
 
  Verlag: Ricordi, München  
  Auftragswerk des Saarländischen Rundfunks (1. Satz)  
  Aufnahme: Saarländischer Rundfunk Saarbrücken (näheres über kontakt@rolf-riehm.de)
  Kommentar:

Rolf Riehm
Der zweite Satz, Leonce und und..., entstand bereits 1966 (meine erste Orchesterkomposition überhaupt) und war als in sich abgeschlossener Teil einer abendfüllenden Oper gedacht. Die Szene mit dem Text aus Büchners "Leonce und Lena" sollte in einem Guckkasten im Hintergrund der Bühne in das laufende Geschehen hart eingeschnitten werden, ziemlich früh schon und quasi als Modell des Geflechtes von Verweisen, mit denen ich in der übrigen Oper arbeiten wollte; Verweise zwischen Text, Gesang, Orchester, dramaturgischem Aufbau, Rückblicken in die Materialgeschichte der Musik etc. Es hat sich dann so ergeben, daß zwar diese Szene fertig wurde, die Oper aber nicht. Unter dem Titel einer "Konzertszene" firmiert das Stück seitdem als eigenständige Komposition. Nun richtet sich einer der "Rückblicke in die musikalische Materialgeschichte" in diesem Stück auf eine Fuge von Johann Sebastian Bach, eben auf die fünfstimmige Fuge in b-moll aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers. Leonce tritt mit seinem Kumpan Valerio auf, sie kalauern im Garten bei Nacht und Mondschein herum, aber kaum daß Leonce der Prinzessin Lena ansichtig geworden ist, gerät er in eine delirierende Spirale. Ganz oben, wo die Luft schon so dünn ist, daß sie nur noch aus dem Duft poetischer Vokabeln besteht, sieht er sich im Paradies mit Lena. Es ist Valerio, der Seine Hoheit wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Diese Tatsachen verkörpert die Bachsche Fuge. Selbst ein Gebilde schier unfaßbarer Poesie, gibt sie in diesem Spiel der doppelten Böden eine Ahnung von der Paradoxie unserer Sehnsüchte und dem, dessen wir immerhin manchmal habhaft werden können. Der Büchnersche Vorwitz dieser Konstellation hielt sich für Jahrzehnte in diesem Stück verborgen und ich rechne es zu meinen glücklichen künstlerischen Momenten, daß er in Gesprächen mit Frau Dr. Tomek über eine Idee, etwas für den Saarländischen Rundfunk zu schreiben, plötzlich wieder ans Tageslicht kam. Todestrieb der Liebe, Paradies, B a c h, flirrende Realitäten, Fuge ohne ihr Präludium, "Alles nur Paraphrase", nämlich Rede ü b e r etwas, nichts Authentisches mehr, eine Einstellung, die mich zu der Zeit (in der ich auch das Donaueschinger Orchersterstück "Die Tränen des Gletschers" komponierte) besetzt hielt, das war die Gemengelage, die uns dazu brachte, uns ein Bach-Areal vorzustellen, das aus diesem alten Bach-Stück, einem originalen Bach und einer neuen Paraphrase gebildet sein könnte. Der rote Faden war das Motiv der LiebesErfüllungsSehnsuchtImTode (da geistlich, dort weltlich), das durch die Kreuzstabkantate ebenso geistert wie durch die Büchner-Szene. Die neue Paraphrase, nun über das Präludium zu dieser Fuge, sollte ihrerseits die beiden Stücke wie in einen neuen Bühnenraum versetzen. "Garten. Nacht und Mondschein" gibt Büchner an, die Szene soll sich im silbrigen Licht der Irrealität abspielen. Ich habe mich während der Arbeit selbst wie eine Figur auf dieser neuen Bühne bewegt, deren Boden, Wände, Beleuchtung, Gassen, Requisiten etc. immer das Bachsche Präludium sind. Der Raum konkretisiert sich gleichsam peu à peu. Nachdem der Vorhang aufgezogen worden ist, hört man anfangs hoch oben (und tief unten) einen "Rahmen" aus Melodieteilen aller drei Bachschen Stücke und auch aus Leonce und und..., intervallisch sehr zusammengedrückt, im übrigen ist die Bühne leer. Dann werden Kulissen eingezogen, große, kleine: ein dissonanter Kulminationsakkord aus dem vierten Takt des Präludiums. Die Bühne füllt sich, der Rahmen verschwindet, man ist in Augenhöhe. Noch flirrend, aber deutlich in der Bachschen Perspektive (Stimmführung, Ablauf, Lage...) hat die Bühne ihr Maß gewonnen und die Personen können auftreten.

(1999)

       
       
       
       
       
       
       
   
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