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Kommentar: |
Rolf Riehm
Der zweite Satz, Leonce und und..., entstand bereits 1966 (meine erste
Orchesterkomposition überhaupt) und war als in sich abgeschlossener Teil
einer abendfüllenden Oper gedacht. Die Szene mit dem Text aus Büchners
"Leonce und Lena" sollte in einem Guckkasten im Hintergrund der Bühne
in das laufende Geschehen hart eingeschnitten werden, ziemlich früh schon
und quasi als Modell des Geflechtes von Verweisen, mit denen ich in der
übrigen Oper arbeiten wollte; Verweise zwischen Text, Gesang, Orchester,
dramaturgischem Aufbau, Rückblicken in die Materialgeschichte der Musik
etc. Es hat sich dann so ergeben, daß zwar diese Szene fertig wurde, die
Oper aber nicht. Unter dem Titel einer "Konzertszene" firmiert das Stück
seitdem als eigenständige Komposition. Nun richtet sich einer der "Rückblicke
in die musikalische Materialgeschichte" in diesem Stück auf eine Fuge
von Johann Sebastian Bach, eben auf die fünfstimmige Fuge in b-moll aus
dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers. Leonce tritt mit seinem
Kumpan Valerio auf, sie kalauern im Garten bei Nacht und Mondschein herum,
aber kaum daß Leonce der Prinzessin Lena ansichtig geworden ist, gerät
er in eine delirierende Spirale. Ganz oben, wo die Luft schon so dünn
ist, daß sie nur noch aus dem Duft poetischer Vokabeln besteht, sieht
er sich im Paradies mit Lena. Es ist Valerio, der Seine Hoheit wieder
auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Diese Tatsachen verkörpert die
Bachsche Fuge. Selbst ein Gebilde schier unfaßbarer Poesie, gibt sie in
diesem Spiel der doppelten Böden eine Ahnung von der Paradoxie unserer
Sehnsüchte und dem, dessen wir immerhin manchmal habhaft werden können.
Der Büchnersche Vorwitz dieser Konstellation hielt sich für Jahrzehnte
in diesem Stück verborgen und ich rechne es zu meinen glücklichen künstlerischen
Momenten, daß er in Gesprächen mit Frau Dr. Tomek über eine Idee, etwas
für den Saarländischen Rundfunk zu schreiben, plötzlich wieder ans Tageslicht
kam. Todestrieb der Liebe, Paradies, B a c h, flirrende Realitäten, Fuge
ohne ihr Präludium, "Alles nur Paraphrase", nämlich Rede ü b e r etwas,
nichts Authentisches mehr, eine Einstellung, die mich zu der Zeit (in
der ich auch das Donaueschinger Orchersterstück "Die Tränen des Gletschers"
komponierte) besetzt hielt, das war die Gemengelage, die uns dazu brachte,
uns ein Bach-Areal vorzustellen, das aus diesem alten Bach-Stück, einem
originalen Bach und einer neuen Paraphrase gebildet sein könnte. Der rote
Faden war das Motiv der LiebesErfüllungsSehnsuchtImTode (da geistlich,
dort weltlich), das durch die Kreuzstabkantate ebenso geistert wie durch
die Büchner-Szene. Die neue Paraphrase, nun über das Präludium zu dieser
Fuge, sollte ihrerseits die beiden Stücke wie in einen neuen Bühnenraum
versetzen. "Garten. Nacht und Mondschein" gibt Büchner an, die Szene soll
sich im silbrigen Licht der Irrealität abspielen. Ich habe mich während
der Arbeit selbst wie eine Figur auf dieser neuen Bühne bewegt, deren
Boden, Wände, Beleuchtung, Gassen, Requisiten etc. immer das Bachsche
Präludium sind. Der Raum konkretisiert sich gleichsam peu à peu. Nachdem
der Vorhang aufgezogen worden ist, hört man anfangs hoch oben (und tief
unten) einen "Rahmen" aus Melodieteilen aller drei Bachschen Stücke und
auch aus Leonce und und..., intervallisch sehr zusammengedrückt, im übrigen
ist die Bühne leer. Dann werden Kulissen eingezogen, große, kleine: ein
dissonanter Kulminationsakkord aus dem vierten Takt des Präludiums. Die
Bühne füllt sich, der Rahmen verschwindet, man ist in Augenhöhe. Noch
flirrend, aber deutlich in der Bachschen Perspektive (Stimmführung, Ablauf,
Lage...) hat die Bühne ihr Maß gewonnen und die Personen können auftreten.
(1999) |