Titel: Les Chants réécrits (1989/95)
(nach "Les Chants de la Revolution sont des Chants de l'Amour")
 
  Besetzung: Tenorsaxophon und Orchester  
  Dauer: 18 Min.  
  Uraufführung:

Berlin, Kammermusiksaal der Philharmonie
5.Oktober 1995
Ensemble work in progress
Johannes Ernst, Tenorsaxophon
Leitung: Bernd Müller-Goldboom

 
  Verlag: Ricordi, München  
  Kommentar: Les Chants réécrits = die überschriebenen Gesänge. Gemeint sind damit: "Les Chants de la Revolution sont des Chants de l´Amour" ("Die Gesänge der Revolution sind Gesänge der Liebe"). Das ist eine sechssätzige Komposition für Sopran und Orchester. Sie entstand für ein thematisch gebundenes Konzert zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution und wurde 1989 im Großen Saal der Alten Oper in Frankfurt/Main uraufgeführt. Neben dem inhaltlichen Bezug war die 50minütige Komposition vor allem bestimmt durch die extensive Sopranpartie. Fast war es ein Monodrama für eine Stimme, in dem das Orchester wie ein Klangtrichter zur Verstärkung der emotionalen Belange der Gesangspartie fungierte. Das Orchester war gewissermaßen die Vergrößerung des Mundes, des sprechenden Gesichtes, der Gestikulationen der Sängerin. Ich arbeitete an dem Stück in der Vorstellung eines aus Sängerin und Orchester neu gebildeten Körpers, der sich nicht nur in dem singenden Individuum, sondern gleichermaßen in weiteren je verschieden agierenden Individuen entäußerte. An die Stelle der Sängerin tritt nun das Tenorsaxophon, ein Instrument, das bekanntlich ganz besonders stark zu sprachnaher Artikulation fähig ist. Dieser Umstand hat mich bei der Auswahl der Sätze aus dem älteren Werk geleitet, und auch sogleich der erste Satz enthält eine fast sprach-somatische Überschreibung der Gesangsstimme durch das Tenorsaxophon. Mit "Überschreibung" meine ich die Verdeckung, "Bedämpfung" des Vorhandenen durch Maskierung durch das Neue. Es vollzieht sich eine Transformation des gesamten semantisch-gestischen Ausdrucksensembles der Gesangspartie in den neuen Klanghabitus des Soloinstruments. Natürlich "unterdrückt" die neue "Gesangsstimme" auch Komponenten des alten Stücks, z.B. den sehr wichtigen Zusammenhang, der von der Semantik des Textes ausging. Da berührt sich eine solche Konzeption mit den Übermalungen, die in der Malerei ja sehr geläufig sind. Ich bin hier so verfahren, daß ich Sinnzusammenhänge pauschalisiert habe und über Einforderungen im Einzelnen einfach hinweggegangen bin. So wird im 2. Satz, "Lied", die Philosophin Hannah Arendt in einer Originalaufnahme zugespielt und das Tenorsaxophon setzt alles daran, dieses Sprechen durch klangliche Verdopplung - wenigstens für den größten Teil der Stelle gilt dies - wieder aufzuheben, unkenntlich zu machen. Hannah Arendt spricht da zentrale Gedanken ihrer politischen Philosophie aus und nur unter dem Dach dieser Konzeption war es vertretbar, die Bedeutung und das Gewicht ihrer Worte total zu ignorieren. Im 3. und 4. Satz treten die Texte schon gar nicht mehr hörbar in Erscheinung, sie stehen lediglich noch in der Stimme des Tenorsaxophons als Steuerungsprogramm für das Solospiel. Mit ihnen ist auch die ehemalige Sinnstiftung "verdeckt" und das Corpus des alten Stückes wird wie ein Fremdling vom Saxophon abgetastet. Jedoch gibt es jenseits der Sinnstiftung ja die Klarheit des emotionalen Einvernehmens: Wenn das Saxophon die diffizile Statik des alten Stückes auch nicht durchschaut, so erschließt es doch über die Wege der Anmutung Bereiche des alten Stückes, die ihrerseits dort "bedämpft" waren, nun aber nach vorne treten und die Achse einer neuen Konstellation bilden: Sie hat sich aus der Gravitation des Textes weg- und der Gravitation einer klang-gestischen Semantik zugeneigt.
       
       
       
       
       
       
       
       
   
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