Titel: Archipel Remix (1999)
 
  Besetzung: großes Orchester mit Samplingkeyboard  
  Dauer: 45 Min.  
  Uraufführung: 28.Januar 2000, Kölner Philharmonie, Musik der Zeit
WDR SinfonieOrchester Köln, Leitung: Peter Rundel
 
  Verlag: Ricordi, München  
  Auftragswerk des WDR Köln  
  Aufnahme: WDR Köln (näheres über kontakt@rolf-riehm.de)  
  Kommentar: Rolf Riehm
Archipel Remix

Wiederholungen, Rückgriffe, Neuverteilung. Alles ist zweiter Natur. Musikgeschichte läuft neben mir her (Chopin, Froberger, Rachmaninoff, Brahms, viel Eigenes, darin wieder viel Anderes (aus dem 14.Jahrhundert, Bach u.a.)).

Hier die Untertitel mit Anmerkungen:

Insel
Archipel - Inseln - Eilande: alles hat e i n e n "Erdstock", aber in dem, was dann heraus ragt, sind Steuerungsvorgänge aus der Oberflächennatur des bloß Wahrnehmbaren bestimmend. Vieles ist evident, geht aber ohne ersichtlichen Grund vonstatten.

Strukturell nicht evident ist z.B. der letzte Teil des Stückes Weitere Insel ("Massiv"). Er besteht aus nichts anderem als der Aufreihung aller Akkorde, die bis dahin im Stück vorkamen, dies allerdings in vielfältigen Sonderausformungen. Das wären etwa Verklumpungen von Akkordmengen oder das Austreiben von Metastasen aus einem Akkord (Kitschblasen). Oder am Ende des Stücks in Stadt der Geister : das blanke Herunterspielen der Akkorde als groß angelegte Bergkette, lose Gruppierungen der Akkorde, kaum noch Binnengestaltung, nur einige Verweise auf Früheres. Die bloße Natur der Akkorde bleibt übrig. Ausgelagert ist dabei die Innenbelebung ins Schlagzeug. Da ist dann das Verhältnis der Schlagzeugpartie, die die acht Musiker in turbulenter Dauerbeschäftigung bewältigen, zu den stoisch dahin gehenden Akkorden extrem ungleichgewichtig.

Auslagerung von Artikulationsebenen: der Satz zerfällt in Bestandteile, die wie durch verschiedenartige Formatierungen komplett von einander getrennt sind. Die gleiche Formatierung "Expressivität" etwa wird erst auf den Rhythmus, dann auf die Klangfarbe aber bei gleichbleibender Harmonik angewendet u.ä.

Verschliffener Gesang Remix (mit Dissoziationen)
Durch diese Auslagerungstechnik ergeben sich Dissoziationen: Vereinsamung von Klängen und Klangteilen.

Chopin

Eilande
Versprengte Solitäre. Zum Teil sind es Einschlüsse, die dann großdimensional paraphrasiert alleine wiederholt werden. Keil ist ein solches Gebilde. Es erscheint zunächst eingeschlossen in Klangwürfel als ein langsam nach oben verlaufendes Akkordglissando (8 gedämpfte Bratschen und Kontrabässe). Nach einiger Zeit tritt es alleine auf, ebenfalls nach oben gehend, aber nun als mächtiges Akkord - Geschiebe des ganzen Orchesters und schließlich quasi in die Tiefe des Raumes verlängert von zwei Singenden Sägen.

unter anderem:
Klangwürfel
Keil
Froberger - Abgang
Feld der Irrläufer, 1. Durchgang


Eine Kompilation aus Fundstücken. An und für sich ohne Zusammenhang, sie gewinnt aber formalen Rang durch Wiederholung und Anreicherungen und dadurch, daß einzelne Stücke später (Ung lion say) eine präsentative Kraft entfalten, die alles andere verdrängt und zu einem Spiel mit Zuspielungen und live - Destillaten davon führt. Es bildet sich, wie sich dann zeigt, eine größere Landmasse: Andere Insel.

Feld der Irrläufer, 2. Durchgang

Andere Insel
Ung lion say (mit Akkordsubstraten)
Übersprung-/Ansaugstellen


Auskomponierte "Übersprungshandlungen", kommen häufig vor, schließen Phrasen ab: Zuspitzungen auf einen finalen Punkt hin, der aber suspendiert wird. In dieses Vakuum werden fremde Bestandteile hinein gerissen (meist elektronische Zuspielungen, haben materiell mit dem Vorangegangenen nichts zu tun, z.B. ein Originalteil aus einem Klavierkonzert von Rachmaninoff mit ihm selbst als Solist u.ä.). Versagte Explosion, dafür Implosion.

Wieder Eilande
unter anderem:
Tutti - Platten mit Auslagerungen
Ausstreichung und weitere Übersprung-/Ansaugstellen

Weitere Insel ("Massiv")
Entrée
Akkordauffaltung
Formeln, Verklumpungen (mit Kitschblasen), weitere Übersprung-/Ansaugstellen
Stadt der Geister

 
  Rezensionen: "Inseln im Tonmeer
Mit geschlossenen Augen könnte man kaum sagen, ob die Musik aus den Lautsprechern tönt oder gerade vom Orchester gespielt wird. An anderer Stelle ist ganz klar, dass der überlaute und hallige Cembaloklang nur von einer Tonkonserve kommen kann. Bald darauf wirken die Orchesterstellen vertraut, weil sie wie Ausschnitte aus einer Barock-CD klingen. In seinem neuen Werk "Archipel", im Rahmen des gleichnamigen WDR-Festivals vom WDR-Radiosinfonieorchester unter der Leitung von Peter Rundel in der Kölner Philharmonie uraufgeführt, jongliert der Frankfurter Komponist Rolf Riehm mit musikalischen Stilen und der Differenz zwischen live Gespieltem und Aufzeichnung. Der Untertitel des fünfundfünfzigminütigen Werks heißt "Remix": Kompositionstechnik des Stücks, das nicht in einem emphatischen Sinne des Neuschöpfens komponiert ist, sondern bereits Bestehendes zu einem symphonischen Konglomerat mixt.

Dieses Verfahren ist in kommerziell produzierter U-Musik gang und gäbe. Rolf Riehm reflektiert das in "Archipel" kritisch. Er arbeitet nicht einfach mit bestehenden Samples, komponiert vielmehr die Schnitte und Ineinanderblenden musikalischer Schnipsel aus. Diese "Rücksprünge" in die Musikgeschichte, wie der Komponist sie nennt, sind vor allem mit Blenden und mit zeitlichen Dehnungen und Stauchungen gemixt. Das historische Material ist meist nicht zitathaft direkt verwendet, sondern erscheint kompositorisch verfeinert. Daher wirkt das Stück ambivalent. Es spiegelt die historische Last, die ein Komponist zu tragen hat, und exemplifiziert einen aktuellen, kaum traditionsbehafteten Umgang damit, das Remixen nämlich."

Frankfurter Allgemeine Zeitung

"Da war die Uraufführung einer neuen großen Arbeit des Frankfurter Komponisten Rolf Riehm von anderem Zuschnitt und Gewicht, obwohl auch in ihr ähnliche Materialien gereit und verarbeitet sind - freilich auf andere, eine insistierende und in kritische Relationen umschlagenden Weise. "Archipel Remix" war das Ereignis des WDR - Orchesterkonzerts. Und, wie es sich gehört, keineswegs unumstritten.
Rolf Riehm bezog sich programmatisch auf die Absicht, seine neue Musik als inselhaft aus einem Meer anderer akustischer Ereignisse hervorstechen zu lassen. Riehm pflegt, was der französische Philosoph Michel Foucault "vagabundierendes Denken" nannte - einst war dieser Komponist einer der Haupt-Betreiber des inzwischen längst in die ewigen Musikgründe eingegangenen "Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters". "Vagabundierendes Denken" also ist hier Musik geworden - eine höchst abwechlungsreiche, vielgestaltige, mitunter chaotisch anmutende, von manch neuer Schönheit genährte Musik, die sich freilich kritisch an der Sehnsucht nach reetablierter Schönheit reibt. Man darf sie durchaus als geografische Tonkunst nehmen: die ansteigenden und wieder fallenden Lineaturen mögen an Horizonte erinnern. Die Notation der Klang-Konglomerate mit ihren höchst differenzierten Dichtegraden können einem wie eine Spezial-Landkarte erschienen, in der mögliche Bodenvorkommen und bereits geschürfte Bodenschätze eingetragen wurden. Tatsächlich findet sich so mancher historischer "Schatz" in Riehms Partitur. Auch schäbig-schaurige Erinnerungsmelodien; und vernehmbar sind auch, gut postiert in sorgfältiger Orchestrierung, Akkordverbindungen, die als abgelegt galten."

Musikforum, Norddeutscher Rundfunk Hamburg
 
   
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