Titel:

Fremdling, rede - Ballade Furor Odysseus(2002)

 
  Besetzung: Mezzosopran, Sprecher und großes Orchester  
  Dauer: 62 Min  
  Uraufführung:

5.12.2003, Frankfurt, Hessischer Rundfunk Großer Sendesaal, Forum Neue Musik,
Gabriela Künzler, Mezzosopran, Jochen Nix, Sprecher,
Radiosinfonieorchester Frankfurt
Leitung: Peter Rundel

 
  Verlag: Ricordi, München  
  Gliederung und Text:

(Text nach der Odyssee)

Portal
(fünf Verschwindens-Chiffren)


Tantalos I (T 68)

Auch den Tantalos sah ich, mit schweren Qualen belastet,
mitten im Teiche stand er, das Kinn von der Welle bespület,
lechzte hinab vor Durst und konnte zum Trinken nicht kommen.
Denn sooft sich der Greis hinbückte, die Zunge zu kühlen,
schwand das versiegende Wasser hinweg, und rings um die Füße
zeigte sich schwarzer Sand, getrocknet vom feindlichen Dämon.
Fruchtbare Bäume neigten um seine Scheitel die Zweige,
voll balsamischer Birnen, Granaten und grüner Oliven
oder voll süßer Feigen und rötlichgesprenkelter Äpfel.
Aber sobald sich der Greis aufreckte, der Früchte zu pflücken,
wirbelte plötzlich der Sturm sie empor zu den schattigen Wolken.


Sisyphos I (T 127)

Auch den Sisyphos sah ich, von schrecklicher Mühe gefoltert,
einen schweren Marmor mit großer Gewalt fortheben.
Angestemmt, arbeitet‘ er stark mit Händen und Füßen,
ihn von der Au wälzend zum Berge. Doch glaubt‘ er ihn jetzo
auf den Gipfel zu drehn, da mit einmal stürzte die Last um;
hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor,
und von vorn arbeitet‘ er, angestemmt, daß der Angstschweiß
seinen Gliedern entfloß und Staub sein Antlitz umwölkte.


Tantalos II (T 242)
Text wie oben


Sisyphos II (T 303)
Text wie oben


Zwischenstück: Kirke (T 339)

Aber mich nahm bei der Hand die Göttin, führte mich abwärts,
legte sich neben mir nieder und fragete, was mir begegnet.
Und ich erzählte darauf umständlich die ganze Geschichte.
Jetzt antwortete mir die hohe Kirke und sagte:
Erstlich erreichet dein Schiff die Sirenen;

DIE SIRENEN I (T 477)

diese bezaubern
alle sterblichen Menschen, wer ihre Wohnung berühret.
Welcher mit törichtem Herzen hinanfährt und der Sirenen
Stimme lauscht, dem wird zuhause nimmer die Gattin
und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen;

denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen,
die auf der Wiese sitzen, von aufgehäuftem Gebeine
modernder Menschen umringt und ausgetrockneten Häuten.


Zwischenbericht (T 600)

Aber du steure vorbei und verkleibe die Ohren der Freunde
mit dem geschmolzenen Wachse der Honigscheiben, daß niemand
von den andern sie höre. Doch willst du selber sie hören,
siehe, dann binde man dich an Händen und Füßen im Schiffe,
aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen,
daß du den holden Gesang der zwo Sirenen vernehmest.
Flehst du die Freunde nun an und befiehlst die Seile zu lösen:
eilend fessle man dich mit mehreren Banden noch stärker!

Als wir jetzo so weit, wie die Stimme des Rufenden schallet,
kamen im eilenden Lauf, da erblickten jene das nahe
meerdurchgleitende Schiff und huben den hellen Gesang an:


DIE SIRENEN II (T 643)

Komm, besungner Odysseus, du großer Ruhm der Achaier!
Lenke dein Schiff ans Land und horche unserer Stimme,
denn hier steurte noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber,
eh‘ er dem süßen Gesang aus unserem Munde gelauschet;

Intermezzo (T 737)

und dann ging er von hinnen, vergnügt und weise wie vormals.

DIE SIRENEN III (T 753)

Uns ist alles bekannt, was ihr Achaier und Troer
durch der Götter Verhängnis in Trojas Fluren geduldet,
alles, was irgend geschieht auf der lebenschenkenden Erde!

Furor Odysseus (T 800)

Also sangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen
fühlt‘ ich, weiter zu hören, und winkte den Freunden Befehle,
meine Bande zu lösen: doch hurtiger ruderten diese.
Und es erhuben sich schnell Eurylochos und Perimedes,
legten noch mehrere Fesseln mir an und banden mich stärker.

Also steuerten wir den Sirenen vorüber; und leise,
immer leiser verhallte der Singenden Lied und Stimme.


 
  Erläuterungen

Rolf Riehm
Aspekte

Grundkonzeption: Ballade , Erzähler mit Begleitmusik. Lustvolle Situation wie am Königshof der Phäaken. „Was kam dann?“

Odysseus erzählt von seiner Begegnung mit den SIRENEN, mit vollem Mund. Als warming up die Geschichten von Tantalos und Sisyphos.

Sprecher/Gesang: eine Stimme, aber zwei expressive Aggregatzustände (schon die Disposition „Männerstimme tief – Frauenstimme hoch“ ist insofern ein dramatisches Moment). Wenn dem Sprecher das Herz überläuft, hört man es singen.


*

Ferne – Nähe der SIRENEN
Die SIRENEN: sie sind die (mythische) Verkörperung unserer Sehnsucht nach Glück. Ihr Gesang eine mächtige, aber Tod-kummervolle Mitteilung: erreichen wir sie, bringen sie uns um. Wollen wir am Leben bleiben, können wir sie nicht erreichen und werden nie erfahren, was unser Glück ist. Daher sind die SIRENEN das weit Entfernte, mehr noch: das unendlich weit Entfernte. Genau gesagt: das unerreichbar Entfernte. Unerklärlich, verschlüsselt in alle Ewigkeit, all das, was außerhalb von uns sich denken läßt.

Die üblichen Ingredienzen kommen hinzu: verlocken, Schönheit, unwiderstehlich.


*

SIRENEN-Gesang: absolute Souveränität in der Verfügung über die Mittel. Totale Willkürlichkeit in allem.
Wie Odd Nerdrum (norwegischer Maler in den Bahnen von Caravaggio, Lotti u.a.) oder Carlo Maria Mariani : bestimmte, unter Abnutzungs-, Kitsch- oder Sentimentalitätsverdacht stehende Elemente aufgreifen und sie zu Einzelposten der Spannungen machen.
Insgesamt kommt in dieser unaufgelösten Komplexität der SIRENEN-Gesang zum Ausdruck. Diese jenseits einer geschlossenen Ordnung stehende, aus der gegenseitigen Einwirkung von einander unabhängiger Elemente resultierende ästhetische Befindlichkeit, das ist der SIRENEN-Gesang. Je stärker das innere Gefälle zwischen diesen Elementen ist, desto näher sind uns die grundsätzlich fernen SIRENEN.


*

Ferne: auch handgreifliche Mittel; weg von den Standards der Neuen Musik, etwa in der Führung der Gesangsstimme; aber auch die erwähnten Retro-Mittel (Kanons, Imitationen, schlichte Korrespondenzen u.v.a.), auch voller Griff in das dem großen Apparat angestammte Arsenal (symphonische Massierungen und Strettas, Periodizität, Sequenzen, vieles in der Instrumentation), den Weg der historischen Referenzen und subtilen Entwicklungen wieder zurückgehen oder einfach überspringen. Dann tauchen unbedarfte, durch dialektische Anstrengungen noch nicht zerrüttete Konstellationen auf. In der Außenerscheinung: triviale, unbehauene, rüde Setzungen, vor allem in Harmonik und Phrasenbildung.

Also alles gleichsam historisch-topologische Maßnahmen, mit denen das gewachsene Raumgefühl für Zeitstile und die Einsicht in die jeweiligen Bedingungen für die ästhetischen Mittel verwirrt wird.

Der Odyssee-Text ist formale Folie, auf der es sich dann in mal da hin, mal dort hin fließender, chaotischer Weise bewegen läßt. Gelegentlich gibt es Konnexe zum Text. Im Großen und Ganzen ist es aber eine arbiträre Teile-Rhapsodie, ohne interne Verweise, ein Teil folgt dem anderen in eigener Regie.

Historische Referenzlosigkeit und ästhetische Orientierungslosigkeit als Ausdruck von Ferne, das meine ich.


*

Bei Homer kommen die SIRENEN dreimal vor:
1. Odysseus referiert Kirkes Anweisungen, wie er an den SIRENEN vorbeikommen kann,
2. Odysseus erzählt den Phäaken, wie es sich abgespielt hat,
3. der Barde faßt zusammen, was Odysseus der Penelope erzählt hat.

Auch ich wiederhole alles mehrmals, auch die Tantalos- und Sisyphos-Geschichten. Es ist ja ein Grundelement des Erzählens, alles immer wieder hören zu wollen. Und zwar, wie Kinder es einfordern, im gleichen Wortlaut. Aber der Tonfall ändert sich: in den Wiederholungen zittert in den perspektivischen Blick auf das aktuell Erzählte (Tantalos, Sisyphos, wissende Kirke etc.) immer schon die dräuende Katastrophe der SIRENEN selbst mit hinein.

Tantalos/Sisyphos:

Bernd Leukert: Was haben aber Tantalos und Sisyphos, die Leidensgenossen, mit dem dann doch erlösten Odysseus zu tun?

Rolf Riehm: Auf den ersten Blick nicht viel. Aber auf den zweiten, wie mir dann auch erst aufgefallen ist, sehr viel. Dieses Glücksversprechen, von dem wir vorhin sprachen, bedeutet ja nichts anderes, als daß es hinter dem, was wir erkennen können, offensichtlich noch eine Realität gibt; erst die ist es, die uns glücklich macht. Erst in dem Moment, wo man über die Normen, die uns gesetzt sind und dann auch in einem weiten, großen Sprung über die Natur selbst hinaus gelangt ist, entdecken wir das, was uns glücklich macht.

Bernd Leukert: Das ist ein sehr religiöser Aspekt.

Rolf Riehm: Ich fand, eher ein semantischer Aspekt (lachen beide), der sich ergibt, wenn man sich fragt, warum wird denn nicht erzählt, was die Sirenen an Glück uns versprechen. S i e verbergen es, die Odyssee verbirgt es nicht. Die Stories von Tantalos und Sisyphos weisen die Richtung. Es ist ja da die Rede von diesen zwei unglückseligen Menschen, die aufgrund von irgendwelchen Missetaten – welche ist dann unwichtig – gequält werden bis ans Ende der Zeit. Daß es eine sich selbst regenerierende Lust gibt, jemanden so gigantisch zu quälen, und daß ein Mensch gequält wird bis in alle Ewigkeit, übersteigt ja menschliches Vorstellungsvermögen. Man wird da in eine Sphäre hineingezogen, in der man in negativer Form Zeuge wird, wie Natur außer Kraft gesetzt wird.

Bernd Leukert: Das ist auch der Punkt, denk ich, auf den Camus dann hinzielt, mit dem letzten Satz, wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Rolf Riehm: Ja (lachen beide), weil er sich, wenn auch für den Preis immerwährender Qual, in dieser ominösen Sphäre jenseits der Natur befunden hat, wo unser Glück liegt.
Das ist ein schwerer Satz.


*

„Furor Odysseus“
Ob der Gesang allerdings immer nur die gesteigerte Sprechstimme ist oder nicht doch das Simulakrum der SIRENEN – das bleibt der empfindungsaktiven Peilung des Hörers überlassen.

Jedenfalls wollte ich eine bestimmte Stelle mit einer seitenverkehrten Volte so komponiert haben, daß man den Gesang der SIRENEN tatsächlich durch die Verschleierung einer verschobenen Textzuordnung hindurch zu hören glauben kann: Der leidenschaftliche Ausbruch „Heißes Verlangen fühlt‘ ich, weiter zu hören,...“ ist dem seine Wirkung kalt kalkulierenden Odysseus nicht zuzutrauen. Über den hochtrabenden Worten ertönt demnach der Todesgesang der SIRENEN (sie müssen sich ja umbringen, weil sie Odysseus nicht auf ihre Insel ziehen konnten).
Die Zuordnung bleibt jedoch schwankend, die Emphase des Sirenengesanges kann sich auch auf Odysseus als seine eigene verlagern. Dann hätte Odysseus den gewaltigen emotionalen Furor der SIRENEN für das Ausstellen seiner eigenen Allmachtsphantasien usurpiert.

(2004)

 

 
   
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