Titel: |
Fremdling, rede - Ballade Furor Odysseus(2002) |
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Besetzung: | Mezzosopran, Sprecher und großes Orchester | ||
Dauer: | 62 Min | ||
Uraufführung: |
5.12.2003, Frankfurt, Hessischer Rundfunk Großer Sendesaal, Forum Neue
Musik, |
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Verlag: | Ricordi, München | ||
Gliederung und Text: |
(Text nach der Odyssee) Portal
Auch den Tantalos sah ich, mit schweren Qualen
belastet,
Auch den Sisyphos sah ich, von schrecklicher Mühe
gefoltert,
Aber mich nahm bei der Hand die Göttin, führte
mich abwärts, DIE SIRENEN I (T 477) diese bezaubern denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen,
Aber du steure vorbei und verkleibe die Ohren der
Freunde Als wir jetzo so weit, wie die Stimme des Rufenden
schallet,
Komm, besungner Odysseus, du großer Ruhm
der Achaier! Intermezzo (T 737) und dann ging er von hinnen, vergnügt und weise wie vormals. DIE SIRENEN III (T 753) Uns ist alles bekannt, was ihr Achaier und Troer Furor Odysseus (T 800) Also sangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen Also steuerten wir den Sirenen vorüber; und
leise, |
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Erläuterungen | Rolf Riehm Grundkonzeption: Ballade , Erzähler mit Begleitmusik. Lustvolle Situation wie am Königshof der Phäaken. „Was kam dann?“ Odysseus erzählt von seiner Begegnung mit den SIRENEN, mit vollem Mund. Als warming up die Geschichten von Tantalos und Sisyphos. Sprecher/Gesang: eine Stimme, aber zwei expressive Aggregatzustände (schon die Disposition „Männerstimme tief – Frauenstimme hoch“ ist insofern ein dramatisches Moment). Wenn dem Sprecher das Herz überläuft, hört man es singen.
Ferne – Nähe der SIRENEN Die üblichen Ingredienzen kommen hinzu: verlocken, Schönheit, unwiderstehlich.
SIRENEN-Gesang: absolute Souveränität in der Verfügung
über die Mittel. Totale Willkürlichkeit in allem.
Ferne: auch handgreifliche Mittel; weg von den Standards der Neuen Musik, etwa in der Führung der Gesangsstimme; aber auch die erwähnten Retro-Mittel (Kanons, Imitationen, schlichte Korrespondenzen u.v.a.), auch voller Griff in das dem großen Apparat angestammte Arsenal (symphonische Massierungen und Strettas, Periodizität, Sequenzen, vieles in der Instrumentation), den Weg der historischen Referenzen und subtilen Entwicklungen wieder zurückgehen oder einfach überspringen. Dann tauchen unbedarfte, durch dialektische Anstrengungen noch nicht zerrüttete Konstellationen auf. In der Außenerscheinung: triviale, unbehauene, rüde Setzungen, vor allem in Harmonik und Phrasenbildung. Also alles gleichsam historisch-topologische Maßnahmen, mit denen das gewachsene Raumgefühl für Zeitstile und die Einsicht in die jeweiligen Bedingungen für die ästhetischen Mittel verwirrt wird. Der Odyssee-Text ist formale Folie, auf der es sich dann in mal da hin, mal dort hin fließender, chaotischer Weise bewegen läßt. Gelegentlich gibt es Konnexe zum Text. Im Großen und Ganzen ist es aber eine arbiträre Teile-Rhapsodie, ohne interne Verweise, ein Teil folgt dem anderen in eigener Regie. Historische Referenzlosigkeit und ästhetische Orientierungslosigkeit als Ausdruck von Ferne, das meine ich.
Bei Homer kommen die SIRENEN dreimal vor: Auch ich wiederhole alles mehrmals, auch die Tantalos- und Sisyphos-Geschichten. Es ist ja ein Grundelement des Erzählens, alles immer wieder hören zu wollen. Und zwar, wie Kinder es einfordern, im gleichen Wortlaut. Aber der Tonfall ändert sich: in den Wiederholungen zittert in den perspektivischen Blick auf das aktuell Erzählte (Tantalos, Sisyphos, wissende Kirke etc.) immer schon die dräuende Katastrophe der SIRENEN selbst mit hinein. Tantalos/Sisyphos: Bernd Leukert: Was haben aber Tantalos und Sisyphos, die Leidensgenossen, mit dem dann doch erlösten Odysseus zu tun? Rolf Riehm: Auf den ersten Blick nicht viel. Aber auf den zweiten, wie mir dann auch erst aufgefallen ist, sehr viel. Dieses Glücksversprechen, von dem wir vorhin sprachen, bedeutet ja nichts anderes, als daß es hinter dem, was wir erkennen können, offensichtlich noch eine Realität gibt; erst die ist es, die uns glücklich macht. Erst in dem Moment, wo man über die Normen, die uns gesetzt sind und dann auch in einem weiten, großen Sprung über die Natur selbst hinaus gelangt ist, entdecken wir das, was uns glücklich macht. Bernd Leukert: Das ist ein sehr religiöser Aspekt. Rolf Riehm: Ich fand, eher ein semantischer Aspekt (lachen beide), der sich ergibt, wenn man sich fragt, warum wird denn nicht erzählt, was die Sirenen an Glück uns versprechen. S i e verbergen es, die Odyssee verbirgt es nicht. Die Stories von Tantalos und Sisyphos weisen die Richtung. Es ist ja da die Rede von diesen zwei unglückseligen Menschen, die aufgrund von irgendwelchen Missetaten – welche ist dann unwichtig – gequält werden bis ans Ende der Zeit. Daß es eine sich selbst regenerierende Lust gibt, jemanden so gigantisch zu quälen, und daß ein Mensch gequält wird bis in alle Ewigkeit, übersteigt ja menschliches Vorstellungsvermögen. Man wird da in eine Sphäre hineingezogen, in der man in negativer Form Zeuge wird, wie Natur außer Kraft gesetzt wird. Bernd Leukert: Das ist auch der Punkt, denk ich, auf den Camus dann hinzielt, mit dem letzten Satz, wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Rolf Riehm: Ja (lachen beide), weil er sich, wenn auch für den
Preis immerwährender Qual, in dieser ominösen Sphäre jenseits
der Natur befunden hat, wo unser Glück liegt.
„Furor Odysseus“ Jedenfalls wollte ich eine bestimmte Stelle mit einer seitenverkehrten
Volte so komponiert haben, daß man den Gesang der SIRENEN tatsächlich
durch die Verschleierung einer verschobenen Textzuordnung hindurch zu
hören glauben kann: Der leidenschaftliche Ausbruch „Heißes
Verlangen fühlt‘ ich, weiter zu hören,...“ ist dem
seine Wirkung kalt kalkulierenden Odysseus nicht zuzutrauen. Über
den hochtrabenden Worten ertönt demnach der Todesgesang der
SIRENEN (sie müssen sich ja umbringen, weil sie Odysseus
nicht auf ihre Insel ziehen konnten). (2004)
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