Titel:

Die schrecklich-gewaltigen Kinder (2003)

 
  Besetzung: Koloratursopran, großes Ensemble und Textprojektionen  
  Dauer: 63 Min  
  Uraufführung:

15.10.2003, "Frankfurter Positionen 2003", Bockenheimer Depot,
Piia Komsi, Koloratursopran,
Ensemble Modern, Leitung: Hermann Bäumer

 
  Verlag: Ricordi, München  
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  Gliederung und Text:

(nach der Theogonie von Hesiod in der Fassung von Elfriede Jelinek und Robert von Ranke-Graves)

Großseufzer
a_______ (lle nämlich)

Die schrecklich-gewaltigen Kinder
(Jelinek)
Alle nämlich, die von Erde und Himmel stammten, waren schrecklich-gewaltige Kinder

Lied,1
und dem Vater von Anfang an ein Greuel; kaum war eines geboren, verbarg sie Uranos alle im Schoß der Erde, ließ sie nicht ans Licht und freute sich noch seiner Untat. Die riesige Erde aber wurde im Inneren bedrängt, stöhnte und ersann einen bösen, listigen Anschlag. Rasch erschuf sie das Element des grauen Stahls, machte eine große Sichel, wies sie ihren lieben Kindern und sprach ihnen Mut zu, denn groß war der Groll ihres Herzens:

Lied,2
Rede der Mutter

"Ihr, meine und eines ruchlosen Vaters Kinder, wollt ihr mir gehorchen,

Lied,3
so können wir die Schandtat eures Vaters vergelten. Er hat nämlich als erster sich die schimpflichen Werke ausgedacht."

So sprach sie,

Lied,4
doch alle ergriff Furcht, und keiner von ihnen sagte ein Wort. Der große, Krummes sinnende Kronos jedoch faßte Mut und erwiderte gleich seiner edlen Mutter:

Rede des Kronos
"Mutter, ich könnte die Tat auf mich nehmen und ausführen, denn ich kenne nicht Schonung für unseren Vater,
Strophe 1
der seines Namens nicht wert ist; er hat nämlich als erster sich
Strophe 2
die schimpflichen Werke ausgedacht."

Strophe 3
So sprach er. Die riesige Erde aber freute sich. Sie barg ihn

Strophe 4
in einem Versteck, gab ihm die scharfgezahnte Sichel in die Hand und lehrte ihn die ganze List.


Notturno
1. Zeile

Es kam aber der große Himmel, führte die Nacht herauf,
2. Zeile
umfing die Erde voller Liebesverlangen und breitete sich ganz über sie.

3. Zeile
Der Sohn aber griff aus dem Versteck mit der linken Hand nach ihm, nahm die riesige, lange, scharfgezahnte Sichel in die Rechte, mähte rasch das Geschlecht seines Vaters ab und warf es hinter sich, daß es fortflog; doch fiel es nicht ohne Wirkung aus seiner Hand, denn all die blutigen Tropfen, die herabfielen, empfing Gäa und gebar im Kreislauf der Jahre die starken Erinyen, die großen Giganten in strahlender Rüstung und mit langen Speeren in der Hand sowie auch die Nymphen, die man auf der unendlichen Erde Melische, also Eschennymphen nennt.


Zwei Tonbilder:
Uranos

Gäa


Kronos – die mörderischen Kinder
(Ranke-Graves)
Kronos heiratete seine Schwester Rhea, der die Eiche geweiht ist. Doch wurde ihm von Mutter Erde und von seinem sterbenden Vater Uranos vorausgesagt, daß einer seiner eigenen Söhne ihn umbringen würde. Daher verschlang er alljährlich die Kinder, die ihm Rhea gebar: als erstes Hestia, dann Demeter und Hera, dann Hades und schließlich Poseidon.
Rhea war voll Zornes. Sie gebar Zeus, ihren dritten Sohn, in finsterer Nacht auf dem Berge Lykaion in Arkadien, wo kein Wesen Schatten wirft. Sie badete ihn im Flusse Neda und gab ihn dann der Mutter Erde. Diese trug ihn nach Lyktos auf Kreta und verbarg ihn in der Diktischen Höhle auf dem Ägäischen Hügel, wo er von der Ziegennymphe Amalthäa und von den Eschennymphen Adrastäa und Io, den Töchtern Melisseus, gepflegt wurde.


Nachspiel


 
  Anmerkungen

Rolf Riehm

Der Mythos ist die Wissenschaft, um zu verstehen, was in uns ist.

Wer sind diese Kinder? Das sind wir, die wir leiden und leiden machen.

Die Sängerin ist die zentrale ästhetische Instanz in der Komposition, sie singt diesen grandiosen und unerbittlichen Bericht mit Leidenschaft und Wärme, mit Melancholie und Aggressivität, Resignation und Hoffnung, mit Zuneigung und Abscheu.

Bevor die Erzählerin ihren Bericht abgibt, seufzt sie tief über das, was sie da jetzt sagen muß. Das Orchester ist ihr Pneuma („Großseufzer“).

Der imponderablen Welt der Gewalttätigkeit kann in der Welt der sinnlichen Vergegenwärtigung nicht das Glück der intakten ästhetischen Metaphorik gegenüberstehen. Die Brutalität des Textes hat ihr Äquivalent in der zerstörten Sprache der Musik. Sie kommt nirgends zu sich, bleibt Partikel ohne metasprachlichen Trost. Mit anderen Worten: auch die Musik ist eine Gefühlsruine, ein Ausbund an arbiträrer Unberechenbarkeit.
Ergebnis: Nichts als Brocken, Hinwürfe, Hineinfälle von weiß Gott woher, durchzogen von „Nichts-Schluchten“. Das sind klaffende Leerstellen, gebildet aus einem dahergespielten, „aufgesagten“ Quart-Sext-Akkord (mal moll, mal dur, erstmals Takt 29):



Grafik: 4/6 Akkord


Ich erzähle mit zwei Mündern: Aus dem einen Mund kommt der Text, aus dem anderen die Musik. Beides sind unabhängige Erzählformen, aber sie finden gleichzeitig statt, wenn auch meistens gegeneinander unterschnitten. Das Hauptmittel des Textes ist der Plot. Es werden nur die harten Fakten genannt: dem Uranos sind seine Kinder ein Greuel, er will sie nicht in der Welt sehen und stopft sie in die Erde hinein. (Warum er sie haßt, wird nicht gesagt.)

In der Musik hören wir den erzählenden Körper. Die Ungeheuerlichkeiten des Uranos kann man ja nicht einfach so dahersagen, wie man von einem Klassentreffen berichtet. Der Körper wird beim Aussprechen in Mitleidenschaft gezogen. Dies alles auszusprechen, quält ihn.
Außerdem: Uranos ist schließlich ein Vater. Da gibt es ja auch fürsorgliche Züge. Wo sind die? Das fragt der erzählende Körper unausgesprochen mit.
Diese vegetativ-semantische Anteilnahme, das ist Sache der Musik. Dabei geht es natürlich nicht um Widerspiegelung dessen, was im Text verhandelt wird. (Und mit Programmusik, wie sie landläufig aufgefaßt wird, hat das schon gar nichts zu tun.)

Die Musik nimmt allerdings teil an den strukturellen Vorgaben der Textgeschichte. Technisch stellt sich dies durch zahlreiche Korrespondenzen dar. Eine vordergründige, aber zugleich wirkungsstarke, wirkungsstark in Bezug auf die formale und satztechnische Anlage des Stückes, ist: die Erzählung hat ein duplizides Grundmuster. Uranos = Gäa, Gäa = ihre Kinder. Innerhalb der Kinder: Kronos = die Übrigen. Später, in der Erzählung nach Ranke-Graves, wiederholt sich das Zweiermuster: Kronos = Rhea, Rhea / ihre Kinder = Kronos.
Das duplizide Grundmuster zieht sich durch die verschiedenen Ebenen des Stückes. Etwa in der Zweiergliederung der gesamten Anlage: die zweigliedrige Erzählung Uranos / Gäa = der zweigliedrige Orchesterteil (nämlich „Zwei Tonbilder Uranos / Gäa“). Darauf folgend dann: Erzählung Kronos/Rhea = Orchesterteil (nämlich “Nachspiel“).
Und en detail: Orchester = Gesang. Wie etwa gleich in dem Großseufzer, mit dem das Stück beginnt. Die Erzählerin stößt einen langen Seufzer aus. Er wird aber schon selbst, man könnte sagen, gewalttätig in zweierlei Präsenzen hervorgestoßen: nicht in e i n e r körperlichen Aufwallung des gesamten Klangkörpers, sondern ausgelagert ins Orchester einerseits und in den Gesang andererseits, beide hart getrennt, nie zusammen (erstmals T 4):


Grafik: Quintole und Gesang e2

Diese Formel ist im übrigen so eine Art Tastatur der kompositorischen écriture. Sie wird dauernd benutzt, mit vielfältiger Tastenbelegung: Fettdruck, Einfügungen, Sperrung, überlagerte Flächen, L e e r t a s t e (formal), u.v.a.

Die auffallendsten unter den dupliziden Mustern in satztechnischenr Hinsicht sind vielleicht die unentwegten Imitationen, die das Stück durchziehen.
An dieser alten Technik haben mich nicht die einheitsstiftenden und die Auffassung entlastenden Aspekte beschäftigt, derethalben sie so extrem beliebt war, sondern im Gegenteil die destruktiven Kräfte, die im Vorgang der bloßen Zeitverschiebung liegen: Eine Textur wird „in der Aufsicht“ in zwei Scheiben zerschnitten und die werden gegeneinander verkantet. Ein harter und stechender Vorgang.

Im Windschatten davon auch ein Zweierverhältnis in der Besetzung: nicht ein Klavier, sondern eben zwei Klaviere, und zwar in z.T. aggressiver Abhängigkeit voneinander. Vor allem hier treten Imitationen geradezu schneidend trivial, wie ich hoffe, in Erscheinung.

Die Zeitverschiebung der Imitation spielt in einem übertragenen Sinn auch in ein anderes Verhältnis hinein: Gesang und Orchester sind sozusagen prinzipiell zeitlich von einander getrennt. Wenn die Sängerin agiert, schweigt das Orchester, wenn das Orchester spielt, schweigt die Sängerin. Die synchrone Präsenz beider ist zerbrochen, gegenseitige Zuschreibungen müssen über mnemotechnische Anstrengungen, vielleicht manchmal mühsam, hergestellt werden. Die Kontexte sind zwar komponiert, aber sie sind aus der gewohnten Apperzeption herausgebrochen, ihre Elemente manchmal auch über einige Stationen hinweg versetzt.

An den beiden Klavieren tritt ein anderer Zug des Stückes zutage: eine interferenzielle Dispositionstechnik. Damit ist eine dem Ablauf sporadisch zuwachsende formale Konturierung gemeint, ein episodisches Auftauchen formaler Festigkeit. Durch Beharrung auf einzelnen Organisationsstrecken entsteht der Eindruck gezielter Vernetzung. Im Orchesterteil „Gäa“ wölbt sich mit dem Part der beiden Klaviere eine solche autarke Konturierung in die Aufmerksamkeit. Beide Instrumente sind zwar auch schon bis dahin als gewissermaßen eigene Gruppierung einander zugesellt. Aber hier treten beide dem übrigen Ensemble eher als Solisten gegenüber, ein Mini-Klavierkonzert. Es ist sehr kurz, die Passage hat aber die Anmutung einer autarken solistischen Plattform.
Solche interferenziellen Formgerinnungen gibt es mehrere. In der Gesangspartie z.B. setzt sich plötzlich eine melodische Regelhaftigkeit fest (T 142):

Grafik: Lied-Gerüst


Eine Art Lied mit mehreren Strophen. Dieses Lied ist aber einem musikalischen Ablauf appliziert, der von dieser Regelhaftigkeit oder gar strophischen Gliederung, etwa im Orchestersatz oder der Textverteilung, nicht viel aufnimmt. Also nur eine Art Vorwölbung.

Eine andere Vorwölbung: Das „Notturno“ mit seiner dreizeiligen Gliederung (T 239). Hier tritt zudem eine formale Zerfließ-Technik auf den Plan, die auch sonst vorkommt: die Zeilen 1 und 2 sind noch deutlich als formale Phrasen wahrzunehmen. In der Zeile 3 verleppert sich das Organisationsmuster
jedoch peu à peu und man gerät unmerklich in ein neues Genre struktureller Bahnen und Markierungen. Ich sprach oben von der vegetativ-semantischen Anteilnahme der Musik. So als wenn ihr eine körperliche Regung eingeschrieben wäre, der sie nachgibt, etwa eine von einem eben noch bemerkten Vorkommnis ausgelöste Kopfbewegung, ein formales Gestikulieren. Ablenkungen, Hinwenden, Wegdrehen, klang-somatische Aromen kommen in den Raum, auf die man nicht gefaßt war.

In der Gesangspartie gibt es dieses Gestikulieren häufig, z.B. an folgender Textstelle (T 217): „Er (i.e. Uranos) hat nämlich als erster sich die schimpflichen Werke ausgedacht“. Auf der Silbe „ausgedacht“ spielt sich geradezu ein Psychodrama der Tücke, des Zweifels (Uranos), aber auch der Einschüchterung und Resignation (Gäa, Kinder) ab.

 
   
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